Weiler im Allgäu, Dienstag, den 30.6. – 1.7.2020
Lieber Hansjörg,
es ist der letzte, der 10. Brief, den wir uns schreiben.
Ich sage ganz einfach nun, den wir uns schreiben.
Aus dem behutsamen Herantasten, Entschlüsseln der Zeichen, den kleinen Wegmarken, …die Spuren zu lesen, wo einer gegangen, ist ein Gehen geworden, ein Gespräch zwischen Ich und Du, dass ein Gespräch wir sind, schrieben Sie einmal.
Ich glaube, wir sind es geworden, ein Gespräch.
Wenn es nur überall so sein könnte, dass wir die gereichten Fäden aufnehmen, ganz gleich, ob sie bruchstückhaft, fadenscheinig, dünn, abgerissen oder farbig sind. Dass so etwas entsteht, wie es gekommen ist! Ich nehme es als Geschenk, als etwas Unerwartetes, aus einem Wagnis heraus, auf das wir uns eingelassen haben.
Es erscheint mir, dass sich etwas Buntes, Fremdes, Vertrautes und Durchlässiges, in der uns gemeinsam anvertrauten Landschaft entwickelt hat,
wie durch Kunst unser Leben zu lesen. Sie nannten u.a. Morandi in seiner Abgeschiedenheit und Stille. Ja, Bologna taucht da plötzlich in meiner Erinnerung auf. Dieses ferne, nahe Licht, dieses nahe, ferne Licht.
Als ich am Morgen erwachte, legte sich das Licht so weich im Gesang der Vögel in die Zweige der Birke und auf die roten Ziegeldächer der Gehöfte. Italien, dachte ich. Der Ruf der Turteltaube ist nicht fern und die Geschäftigkeit des Bauens, das Palaver, das blecherne Geräusch der Stahlgerüste…
Mein Blick geht zum Bücherregal. Ein blauer mit Teeflecken versehener Umschlag eines Gedichtbandes aus dem Lyrikkabinett mit dem Titel: Nimm mein Wort in die Hand, springt mir ins Auge, D.H. Lawrence von Werner Koppenfels ausgewählt und übertragen.
Ich lese erstaunt:
Nicht ich, nur der Wind, der durch mich hindurch weht!
Ein feiner Wind zeigt im Wehen die neue Richtung der Zeit.
Wenn ich mich nur von ihm nehmen lasse, tragen lasse, wenn er mich nur tragen will!...
Die Glocken der Kapellen läuten heute früh ganz anders als sonst, einsilbig, ja, eintönig, als ob sie Trauer tragen um diese ungewöhnliche Zeit.
Halblaut lese ich
O, dem Wunder, das in meine Seele sprudelt,
wär ich ein guter Brunnen, ein guter Quell,
würde kein Wispern verwischen keinen Ausdruck verpfuschen.
Was soll dieses Klopfen?
Was soll dieses Klopfen, des Nachts an der Tür?
Da ist jemand, der will uns schaden.
Nein, nein, es sind die drei fremden Engel.
Lass sie ein, lass sie ein.
Und ich halte Ausschau, wie von einem Leuchtturm aus, staunend auf all die Landschaften der Sprache, die sie mir aufzeigt und Sie mir aufzeigten.
Ihrem Freund möchte ich tröstlich antworten, es kann wieder gut werden, auch mit einem Lungenflügel, in einer achtsamen Verlangsamung, weil ich dies selbst bei einer Freundin erlebt habe.
Meine Seele hört im Sehen –
heisst eine der neun deutschen Arien von Georg Friedrich Händel, gedichtet von dem Barockdichter Barthold Heinrich Brockes.
Was aber bleibet, stiften die Dichter, sagt Hölderlin und spricht uns dies nicht auch der junge Dichter Raoul Eisele ebenso zu. Und das Leben, das plusternde mit dem Duft des Brotes, mit Linas Garten und all den alltäglichen Wunder. Wenn uns die Sprache zum Instrument wird, zur verwandelnden Kraft, den Ton zum Singen bringt vom Sommer, dem alterslos Schönen, auch in diesem Jahr.
Gestern sah ich den Dokumentarfilm über Itzhak Perlman: „Ein Leben für die Musik“. Mir blieben nur die Worte Seele und Schönheit haften. So kann nur einer spielen, der hindurch tönt und eins ist mit seinem Instrument. Da ist auch Itzhak Perlmans entwaffnende Menschlichkeit, seine Leidenschaft zum Kochen, jenes geheimnisvolle Bereiten der Mahlzeit. Ob es mit Worten, Tönen, gutem Essen, gutem Wein und Gesprächen geschieht, mit aller Süssigkeit und Bitterkeit der Kräuter und Gewürze. Dieses sich versammeln um den gedeckten Tisch des gemeinsamen Schicksals. Wir mit unseren Geschichten und unserer Geschichte, wir sind alle mit dabei.
Miriam Pressler schrieb einmal in einem Nachwort einer Sammlung von Gute-Nacht Geschichten, dass Geschichten Mahlzeiten für die Seele sind.
Wir tragen sie in uns, entdecken sie, tragen Schichten ab, fügen neue hinzu, wir rasten, halten Ausschau, verändern den Blick, finden Gefährtinnen und Gefährten.
Es ist früher Morgen. Die Vögel singen um die Wette oder einfach nur so, weil sie da sind?
Ich denke an Beethovens Streichquartett Nr.14 cis-Moll op.131, ein spätes Werk, denke an seine Taubheit an seine drei innigen Briefe für Bettine.
Das Belcea Quartet vor zwei Tagen hörte ich mit der rumänischen Violinistin im Garten mit Kopfhörern, es hat mich zutiefst ergriffen, als Atem, als Sauerstoff, der verwandelt.
Immer sind es doch die Geschichten, die wir miteinander teilen. Es sind nicht die grossen Bauwerke, sie vergehen, sagt ein altes afrikanisches Sprichwort. Die Zunge bleibt in den Märchen und Liedern.
Sie schrieben, dass ein Zwischenboden in Ihrem Atelier eingezogen wird, eine Art Empore, die Veränderung ermöglicht.
Alles Gute für das Atelier, eine Empore ist etwas, was den Blick verändert.
Ich bin dabei meine Korrespondenzen zu ordnen, zu sortieren, zu vernichten, zu behalten, im Gedächtnis zu behalten, was das Herz bewegt.
Eine Schweizer Freundin sagte mir einmal, wir feiern „Gedächtnis“.
Ich kannte diesen Ausdruck und den dazugehörigen Brauch nicht. Jene im Gedächtnis zu behalten, die nicht mehr sind und ich füge hinzu, und jene die sind.
Ich freue mich, Ihnen begegnet zu sein und Ihnen auch bald leibhaftig im Literaturhaus in Liechtenstein zu begegnen.
Danke für Ihre guten Wünsche zum Buchstabieren meiner Stadt, vielleicht wird dieses Buchstabieren nur für mich sein.
Ich schaue aus dem Fenster, verwundert, der Himmel blau mit zarten, weissen, spielerischen Wolken. Das Sfumato ist verschwunden, klar sind die Konturen der Hügel und Häuser.
Alles Wirkliche ist Begegnung, schreibt Martin Buber, es stimmt, füge ich hinzu,
Ihre Antonie
Die Türen des Jahres öffnen sich,
wie die der Sprache,
dem Unbekannten entgegen.
Gestern Abend sagtest du mir:
Morgen
gilt es ein paar Zeichen zu setzen,
eine Landschaft zu skizzieren, einen Plan zu entwerfen
auf der Doppelseite
des Papiers und des Tages.
Morgen gilt es,
aufs Neue,
die Wirklichkeit dieser Welt zu erfinden…
Oktvio Paz