14. juli 2020
Liebe Dragica
In der Logik unseres Briefwechsels, einer von mir gefühlten und keiner errechneten, hätte dein letzter Brief der Schluss sein können. So fühlt es sich an, ich danke dir für diesen, letzten Brief, aber nun sitze ich wieder einmal hier in der roten Fabrik, sehe hinaus auf den See, der aufgewühlt ist von schwimmenden Kindern über ihm ein Himmel mit weichen, kleinen Wolken und ein junger Mann, der mit sich selber spricht. Ich schreibe dir. Das Gefühl des Abgeschlossenen macht es nicht leicht und dennoch freue ich mich noch einmal nach Worten zu suchen für dich und eine verschwommene Aussenwelt. Dann ist es vorerst vorbei. Eigentlich, so denke ich, dürfte er nicht enden. Danach fahre ich in den Norden von Deutschland, zu den Eltern meiner liebsten Freundin. Dort werden wir unter dem Nussbaum sitzen, wenn die Sonne scheint und in der Stube, wenn es regnet. Ich hoffe auf ein Gewitter. Und auf die Schafe auf der Weide. Auf Boule spielen in Orangenlicht und mit einem Weisswein vielleicht und Nelly und Romy den ganzen Tag um mich herum kriechend, Blätter essend und rennend, Insekten suchend. Ich werde Bilder zeichnen, weil ich für einmal nicht schreiben will. Aber du hast schon recht, wir trocknen schnell aus ohne dem Schreiben. Unter dem Nussbaum noch etwas neues formen mit alten Worten, neue Bilder schaffen für das, was immer wieder auftaucht im Leben, scheinbar schon zu Ende beschrieben.
Ein schreibender Heinz neben mir. Es ist etwas vom schönsten, dass ich ihn habe, der die Sprache auch so braucht, wie ich.
Dass auch ich dir mit meinen Worten etwas geben konnte, bei dem Reichtum, das von dir zu mir herüber kam. Wie du Worte wie Teppiche ausrollst, auf denen ich stehen kann für Momente und in Gedanken wieder zu ihnen zurückkehren, Teppiche, auf denen ich vorher noch nie gestanden bin. Es erfüllt mich eine Sicherheit und gibt mir ein Gefühl, ein feines, mit mir und meinem Kopf am richtigen Ort zu sein. Für einen Moment. Wieder danke ich dir. Und ich befinde mich in einer Vorfreude darauf, was für Teppiche ich vielleicht noch ausrolle. In vollkommen anderem Muster, aber Teppiche, auf denen jemand stehen kann, vielleicht, für Momente und sein, und in all dem Unsinn und nicht wissen, die Füsse logisch darauf ablegen. Ein bisschen wie das Fahrrad, von dem du geschrieben hast, das Fahrrad anstossen und ein Schutz kann dann die Sprache im Fahrtwind sein. Mein Fahrrad fährt in diesen Wochen unseres Briefwechsels, als ob ich noch ein bisschen mehr Sprache habe für das Unsagbare, es umkreisen kann auf meinen Rädern.
Und gerade jetzt habe ich einen Glanz an Humor, weil ich von meinem Atelier aus auf den See blicke und dort schwimmen 20 Plastikbretter mit Menschen drauf und diese Menschen versuchen Segel aus dem Wasser an sich zu ziehen, Segel, die an den Brettern festgemacht sind und es gibt keinen Wind. Und abwechslungsweise und wie von einer Musik dirigiert fallen die Segel und oder die Menschen zurück in den See, dann steigen sie wieder auf und beginnen wieder die Segel hoch zu ziehen. Die orangenen Westen leuchten. Es ist fantastisch und ich staune über diesen Menschen, der wir sind, der sich Dinge ausdenkt, um seine Zeit, die er auf dieser Welt verbringt zu füllen, wo er doch weiss, es gibt keinen tieferen Sinn in seiner Existenz, vielleicht keinen tieferen, als ein Segel aus dem Wasser zu ziehen.
Liebe Dragica, ich kann noch nicht genau fassen, wie alles zusammenhängt, unser Schreiben und die Veränderung, das Schreiben aus unserer Generation heraus. Ich werde alle Briefe noch einmal als Ganzes lesen, es liegt etwas darin. Aber über was ich noch einmal nachdachte ist das Gefühl, du schreibst sehr nahe an deinem Leben, dir als Material, deine Geschichte und deine Geister, deine Seelen. Das mache ich schlussendlich auch, weil man hat ja nur sein eigenes Material, aber ich habe die Sprache, die ich in Biel herausgeschält (ein schönes Wort deiner Bekannten) habe, als etwas benutzt, als ein Werkzeug mich in möglichst Fremdes hinein zu fühlen. Als Werkzeug der Empathie sozusagen. Darüber habe ich nachgedacht, dass ich nun auf dem langsamen Weg bin, mir selbst im Schreiben näher zu kommen. Und der Weg, der sich richtig anfühlt. Als könnte ich mich nun an mich selbst wagen, weil meine Sprache mir Sicherheit gibt, dass ich nicht zu nah komme, nicht Bedeutung mit Kitsch verwechsle, nicht etwas, was nach Innen gehört, nach Aussen drücke und dann liegt es in fremden Händen, wo es nicht hingehört. Und auch das hängt wieder mit dem Fahrrad zusammen, dass ich plötzlich diese Sicherheit habe, dass das Ich als Material etwas sein kann. Denn ich dachte immer, möglichst nicht von diesem Ich schreiben, einem Schweizer Kind, aufgewachsen in vollkommenem Frieden, aufgewachsen in Zürichs Randgebiet mit grossem Garten, mit Insekten retten aus dem Swimmingpool, mit sich von Bienen stechen lassen, damit man nicht zum Klavierunterricht muss, mit Zuckerfröschen essen bis zur Übelkeit und vergrabenen Schätzen, mit Eltern, die Freunde in den grossen Garten einluden und Feste feierten und das Kind, das ich war, das unter dem Tisch sass und den teilweise betrunkenen Freunden zuhörte, ihre Geschichten von Fahrten mit der Vespa nach Indien oder vom Wandern auf der Rigi. Davon sollten meine Gesichten nicht handeln, das muss die Welt nicht hören, dafür ist kein Platz, für diese heile Welt des Kindes, dachte ich mir. Darum das weiter weg. Darum das Schreiben über die Figuren, die einen Platz suchen in der Welt, die keinen finden, an den Rand gedrängt oder zu still. Dann bin ich aber unweigerlich doch bei mir gelandet, zum Glück. Ich bin sie alle auch meine Figuren. Und so heil ist auch meine Welt nicht und die Wunden liegen überwachsen, vielleicht nicht einmal in meiner Generation entstanden, dennoch trage ich sie mit und die Welt hat genug des aufgeschürften und das Schreiben kann Trost sein, das ist ihr Antrieb, Trost innerhalb dessen, das unsagbare zu sagen. Was für eine wichtige Rückmeldung auf dein Buch von dieser, deiner Bekannten. Das kaum Sagbare herausgeschält.
Ich schreibe und denke die ganze Zeit, Dragica wird mir nicht mehr antworten, wo bleiben dann meine Sätze hängen, das ist kein Abschluss, ich warte auf Antwort, denke mir deine Stimme, die ich nicht kenne.
Was ich tun kann ist, ich gehe später in die Volkshaus-Buchhandlung, da kaufe ich alle Bücher, die ich von dir finde. Die lese ich dann, höre dir zu und vielleicht finde ich Briefe an mich darin, die auch Antwort auf diesen Brief sein können. Vielleicht finde ich neue Teppiche, ganz sicher bin ich mir. Ich freue mich sehr darauf. Viele Bücher will ich mir kaufen. Auch noch andere. Gerade lese ich das Buch Menschenkind. Von Toni Morrison. Jeden Abend, wenn die Kinder schlafen, setze ich mich auf den weissen Balkon, trinke Rotwein und rauche und lese von einer Welt, die ich nicht kenne, die meiner so fern ist, die weh tut, die weich ist. Weich ist ihre Sprache und so unglaublich elastisch und wie ein Laubhaufen, hineinspringen und manchmal wie unter Wasser keine Luft. Steine berühren. Und Eisen im Mund. Es tut weh das Lesen, danach gehe ich still zu Bett und in dieser Nacht träumte ich, dass ich in einem grossen Haus allein mit Geistern lebe und die Treppen führten nirgends hin. Ich weiss nicht mehr, was ich sagen wollte. Bin nahe an Tränen jetzt, weil die Geschichten, die literarische Sprache, die verschiedene Welten, Traurigkeiten oder Schönheiten nicht vergleichend nebeneinander stellt. Und das, was ich nicht kenne in mir aufhellt.
Liebe Dragica, du wirst es nicht glauben, es ist wie erfunden vor meine Augen gekommen. Ein riesiges aufgeblasenes Einhorn schwimmt nun in der kleinen Bucht vor meinem Atelierfenster.
Der Mensch, denke ich, der Mensch und aus einem beinahe Weinen wird ein beinahe Lachen. Ich danke dir für diese Zeit, das Hin-und-her-Gehen der Worte, deine, die mich eng begleitet haben.
Bis bald unter den Bäumen
deine Julia