1. Juli 2020
Liebe Barbara!
Heute Morgen, während ich mich bequem im Zahnarztstuhl zurücklehnte, habe ich überlegt, was ich dir auf deinen letzten Brief antworten könnte. Mein Geist ging auf die Reise, zum einen, um sich in das hineinzuversetzen, was du mir geschrieben hast und was ich noch einmal durchgelesen hatte, bevor ich aus dem Haus ging, zum anderen auf der Suche nach einer Geschichte zur Besiegelung dieses unseres Briefwechsels zwischen Unbekannten, der aber vielleicht dazu geführt hat, dass wir einander nicht mehr ganz so unbekannt sind.
Du hast recht, wenn du sagst, dass wir Menschen so beschaffen sind, dass wir uns zwischen Gut und Böse entscheiden können, manchmal wählen wir auch den Mittelweg, oder einfach den bequemsten Weg, der nicht zwangsläufig das Böse sein muss.
Menschen, also unvollkommen, andererseits, wenn wir nicht unvollkommen wären, würden wir letztendlich Götter sein, die famosen Götter, mit denen wir uns mehrmals in unserem Briefaustausch befasst haben. Möchtest du, Barbara, gern perfekt sein? Ich, ehrlich gesagt, nicht, weißt du, wie langweilig das Leben wäre … ich kenne Leute, die überzeugt sind, es zu sein, und du glaubst nicht, wie belanglos und langweilig diese Personen sind! Wenn man Fehler macht, kann man sich wenigsten eines Besseren besinnen, den Fehler zugeben, auch sich entschuldigen… Doch diejenigen, die immer und überall perfekt sind, die werden nie das Vergnügen haben, einen eigenen Fehler eingestehen zu können. Und dann ist nicht zwangsläufig gesagt, dass Fehler immer etwas Negatives sein müssen.
Ich weiß nicht, ob du schon einmal daran gedacht hast, aber das Leben gleicht oft einer Fahrt im Überlandbus, einer dieser langen, nicht enden wollenden Fahrten. Ich meine nicht jene großen Reisebusse, die man ab und zu auf der Autobahn oder vor den Hotels der Ferienorte hier bei uns stehen sieht. Ich meine die Busse, die zwischen Ortschaften verkehren, jene Busse, mit denen nicht nur der Körper auf Reisen geht, sondern auch der Geist. Ich finde, das ist ein besonderer Vorzug der Busse, mit den Zügen zum Beispiel ist es schon etwas anderes.
Die Linienbusse aber sind perfekt, um die Fantasie auf Trab zu bringen. Es mag mit meinem Hang zum Schreiben und zum Geschichtenerfinden zu tun haben, doch Busreisen sind für mich stets eine große Inspiration, zum einen, wenn ich die Landschaften betrachte, durch die die Busse fahren, zum anderen, indem ich mir im Geist, aber auch mit Hilfe von Papier und Bleistift, Notizen mache, und auch indem ich mir Geschichten über die unbekannten Mitreisenden ausdenke, die neben, vor, hinter uns oder auf der anderen Seite des Ganges sitzen, und natürlich auch über den Fahrer.
Wie im Leben, begegnen wir auch im Bus anderen Menschen, Menschen, die das Leben unseren Weg kreuzen lässt, Menschen, mit denen wir uns gut verstehen können, aber auch Menschen, an denen wir keinen Gefallen finden.
Um diese meine Theorie von der Busreise als Paraphrase und Metapher des Lebens zu bekräftigen, möchte ich dir von einer langen Fahrt erzählen, die ich vor Jahren in einem besonders heißen Sommer durch Niederkalifornien unternommen habe. Wir reisten an Bord eines Busses des Unternehmens Tres Estrellas de Oro (die drei Sterne standen für Sicherheit, Komfort und Freundlichkeit), mit Start in Tijuana und Ziel in Mulegé, etwa in der Mitte jener schmalen Halbinsel, die sich über die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko hinweg erstreckt und im Westen vom Pazifischen Ozean, auf der anderen Seite vom Meer von Cortez umspült wird. Das Großartige, Unvorhersehbare, Unerwartete jener Reise zeigte sich ziemlich bald, als uns an der Station Ensenada einer der beiden Fahrer mitteilte, dass gerade ein Wirbelsturm über die Halbinsel hinwegzog, man wusste aber nicht genau, wo, und deshalb würden wir früher oder später anhalten müssen, um auf eine für uns günstige Entwicklung der Ereignisse zu warten. Das bedeutete eine fast zehnstündige Pause im Busbahnhof von Guerrero Negro (wo wir im Schlaf vor Morgengrauen angekommen waren), vor dessen Küsten in den Wintermonaten die Wale ihre Jungen zur Welt bringen. Zu jener Zeit interessierte ich mich aber noch nicht so für Walfische, und da es Sommer war, war ich ohnehin zur falschen Jahreszeit dort, ich glaube aber, dass die Sache trotzdem eine Bedeutung hat.
Für einen einfachen Bus, der den nördlichsten Teil der Halbinsel mit dem südlichsten verband, wartete er mit einer breiten und bunten Vielfalt von Menschentypen auf. Im Besonderen schlossen wir Freundschaft mit zwei typischen Mexikanern, die in die Gegend von Los Angeles ausgewandert waren und die so typisch waren, dass du sie dir nicht anders vorstellen könntest als so, wie sie waren, mit bronzenem Teint und Schnurrbärtchen. Melchiòr und Tio Felipe (er reiste mit seinem Söhnchen und einem kleinen Neffen, der ihn jedes Mal, wenn er sich ihm zuwandte, so nannte). Im Bus waren auch noch sechs Deutsche, drei aus Köln und drei aus Leipzig, die sich grimmig ansahen.
Jedes Mal, wenn sie jemand fragte, woher sie kämen, antworteten die drei aus Leipzig unbeirrt, und zwar in einem noch kläglicheren Englisch als meinem, dass sie aus East Germany stammten, bis schließlich Tio Felipe irgendwann dem Theater ein Ende setzte und sagte, dass es seines Wissens seit einigen Jahren nur mehr ein einziges Deutschland gäbe.
Der Bus fuhr am frühen Nachmittag weiter und nach der Siesta der Fahrer hatte uns ein aus der Gegenrichtung kommender Bus unterrichtet, dass die Straße nun wieder offen wäre: na ja… sie hießen uns alle Sachen aus dem Kofferraum holen, denn entlang des Weges mussten wir ziemlich viele Furten durchqueren und es bestand die Gefahr, dass die Rucksäcke, Taschen und Koffer nass würden. Bei jedem Halt stiegen die Mexikaner und die Deutschen aus, um Bier und Tequila zu kaufen. Melchiòr erzählte Geschichten: er sagte uns, dass er wie einer der Heiligen Drei Könige hieße, dass er zwei Brüder hätte, Balthasàr und Caspàr, und dass – als Krönung des Ganzen – seine Frau Reina hieße, was auf Spanisch Königin bedeutet. Etwas weiter vorn war ein Paar am Schmusen, in der ersten Reihe schwitzte ein Herr mit pomadigem Haar und unvermeidlichem Schnurrbärtchen gleichmütig vor sich hin, ohne eine Miene zu verziehen. Zwei der Jungs aus Leipzig und Tio Felipe waren schließlich ganz schön benebelt, zur Freude der beiden Kinder, die dem schnauzbärtigen Angehörigen zusahen, wie er, über den Sitz gebeugt, sich dem Schlaf hingab und dabei laut schnarchte.
Als wir unser Ziel erreichten, das auch jenes der drei Kölner war, war es erneut fast Nacht geworden und wir mussten noch einen Platz zum Schlafen finden, doch bevor der Bus wieder weiterfuhr, blieb noch Zeit für ein Bier an Bord und dann Umarmungen und Schulterklopfen mit Melchiòr, den drei Leipzigern und Tio Felipe.
Während in der Zahnarztpraxis die Zahnpflegerin meine Zahnreinigung beendete, versuchte ich jene Reise in die heutige Realität zu übertragen. Heute wäre es eine höchst unerfreuliche Reise geworden: ein halbleerer Bus, die Fahrgäste mit Gesichtsmaske und Abstand, keine Umarmungen bei der Ankunft am Ziel. Und darum freue ich mich so sehr über jene Reise, und da die Reise das Leben ist, freue ich mich so sehr über mein Leben, das nicht immer eitel Sonnenschein ist, das, wie alle Leben, auch aus Licht und Schatten besteht. Doch es ist mein Leben und das reicht.
Ich hoffe, ich bin nicht zu weitschweifig geworden, Barbara. Manchmal verliere ich den Faden, das habe ich dir bereits geschrieben, vor allem dann, wenn es ums Geschichtenerzählen geht. Ich möchte noch etwas zu unserer Reise sagen. Denn in der Tat war auch dieser Austausch von Briefen so etwas wie eine Reise, manchmal innerlich, manchmal nicht, eine Reise auf der Grundlage eines Briefwechsels zwischen Unbekannten. Alles in allem würde ich auch sagen, eine schöne Reise. Abschließen möchte ich wieder mit einem Zitat aus der Rockmusik, die ich gern höre, und zwar mit einem Song der Kinks mit dem Titel Strangers, wo es im Refrain heißt: Fremde sind wir unterwegs auf dieser Straße, doch wir sind nicht zwei, wir sind einer… und so ist es im Leben, im Bus, in den Briefwechseln.
Gute Weiterreise, aloha!
Paolo