Lieber Christoph.
In meinem ersten Brief schrieb ich von dem Gefühl unserer Verantwortung, diesen besonderen Augenblick zu interpretieren. Nun bin ich beim letzten angelangt und merke, dass mir, egal für welche mögliche Interpretation, jegliches Gefühl von Gewissheit fehlt. Sinn verleihen, den Geschehnissen eine Bedeutung zumessen, die Gesellschaft muss dieser Krise eindrücklich Ausdruck verleihen. Und schau: alles wird gesagt, von allen, auf jede erdenkliche Art und Weise. Es wurden andere Zeiten und andere Ereignisse in Erinnerung gerufen, man hat eine neue, eigentlich alte Erzählung begonnen, sie neu aufgerollt und sie bestätigt. Gestärkt und deshalb neu oder zumindest aus heutiger Sicht neu betrachtet, wurde sie zu etwas Neuem mit Ausblick auf die Zukunft, zu etwas anderem als das Vergangene. Ganz sicher wird sich diese Erzählung in ihrem Wesen und in ihren Eigenschaften, ihren Ausdrucksweisen und Gefühlen unterscheiden, von dem was war und was man vorher hatte. Insgesamt sehr viel! Vieles ist gesagt worden, vieles wird gerade gesagt und vieles wird danach und später noch gesagt werden, wir werden unermüdlich sein.
„Nichts wird mehr sein wie es war“. Diesen eindringlichen Satz hat man im Radio, im Fernsehen oft vernommen, man hat ihn gelesen in den verschiedenen Medien und Zeitungen, gezwungenermaßen. Allerdings und bei allem Respekt vor den vielen Todesfällen, bin ich da im Zweifel. Nicht wegen der apokalyptisch klingenden Aussage als solcher, die ich nicht teile, vielmehr hege ich Zweifel an der Ehrlichkeit und Würde der Gesellschaft, die so etwas sagt. Etwas hat sich verändert, sehr wahrscheinlich hat sich sogar vieles verändert. Doch uns zu verändern ist schwierig, wir kennen uns und wissen, dass wir unter unseren vielen guten Eigenschaften auch eine nicht so schöne haben, und zwar, schnell zu vergessen. Die Dinge zeigen sich letztendlich oft anders und entwickeln sich in eine ganz andere Richtung, als man hier und jetzt denkt.
Ist es für die Begegnung mit der gegenwärtigen Zeit(enwende) nicht auch vorteilhaft, das ruhige und ruhende Auge auf dem scheinbar Unwesentlichen zu schulen?
Auf diese deine Frage glaube ich, eine Antwort versuchen zu können und daran, im Gegensatz zu allem anderen, kaum zu zweifeln. Ich bin mir sicher, dass diese stillstehende Zeit für die Gesellschaft, verstanden als „jeder von uns“, eine Gelegenheit darstellte. So tiefgreifend wir die Unmöglichkeit von anderem auch erlebten, es gab uns die Möglichkeit, die Stille im ganzen Ausmaß ihres Bewusstseins wahrzunehmen.
Es hatte die Intensität eines andauernden, unaufhörlichen Volumens. Außerhalb von uns
hörten wir die anhaltende Dauer, das Kontinuum, etwas, das unendwegt da ist. Zu hören war es für die Venezianer, die Florentiner. Für die Mailänder, und Bergamo. Wir hörten es hier in Abtei, in den Wäldern, in den Ställen. Ob auf See, weiß ich nicht, wir werden die Flüchtlinge fragen.
Nun wissen wir, was der Blick auf die Stille sein kann, der Horizont eines Erkennens dessen, was wir vorher nicht gesehen hatten. Vor allem aber wissen wir, dass die Stille für eine lange Dauer von Wochen aus dem Verborgenen trat. Weil wir sie entblößten, sie unserer lärmigen und geschäftigen Hüllen entkleideten und dem Zuhören erlaubten zuzuhören. Der Stille erlaubten, gehört zu werden. Einzigartig und ohnegleichen, eine Stille bar ihrer Mehrzahl. Oft schon schrieb ich in meinen Gedichten über die Stille, immer dabei über ihr Vielfaches, indem ich Bezug nahm, was in unserem Inneren ist. Im eigenen Kopf, innerhalb des Hauses, draußen, von der Höhe der Berge aus, in einem Händedruck während des Tages. In der Nacht, die die Mutter des Hörens ist, ein feines Werkzeug, das dem Atem lauscht, wie er die Stille streicht, sie aber nicht stimmt.
Von jetzt an weiß ich, dass die Einzigartigkeit als Eigenschaft der Stille selbst angehört, ihr allein. Eine einzige Komposition, für nur ein Instrument. Nur ein Akkord, absolut in seiner Vollständigkeit.
Wie das erzählen? Wie diese Stille mit Worten abbilden? Mit welcher Beschreibung? Alles haben wir gesagt, weil wir Menschen ohne Stille sind und was nicht ausgedrückt werden konnte, wurde angekündigt mit dem Läuten der Totenglocken. Es war dramatisch, und traurig und wahr ist auch, dass es schön war, schön und ohne Vergleich.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, dass uns diese Zeit die sachte Ahnung einer mystischen Erfahrung beschert hat, fernab von Ekstase oder Ähnlichem, durchaus, aber bezugnehmend auf eine innige Verbundenheit mit dem Dasein einer höheren Stille, die weder Anfang noch Ende hat. Wir haben uns in der Stille verändert, haben uns mit der Stille identifiziert, indem wir eine Art kognitiver Beziehung mit ihr eingegangen sind. Lang hat es gedauert, aber es hat auch kurz gedauert.
Stille kann nicht improvisiert, sie muss erkundet werden,
mit Hingabe suchen, die Stille durchdringen
und sie einem einzigen Instrument zuweisen,
um es als solches auf den Prüfstein zu legen,
sein Können und seinen Klangraum.
Erlaube mir, Christoph, diesen unseren Briefwechsel den Ärzten zu widmen, die in Italien im Zuge der Epidemie gestorben sind. Es ist eine traurige Liste, die die Zahl Hundert bei Weitem übersteigt. Zuzüglich der Zahl jener, die sie geheilt haben und jener, die sie nicht haben retten können. Roberta