Hohenems, den 19.07.2020
Lieber Peter,
es ist Sonntagmittag, ich sitze im Garten und sehe dem roten Milan zu, wie er seine Kreise zieht: diese begnadete Stille in seinem Flug, während der Lärm der Flugzeuge von den Felsen des Breitenbergs widerhallt. Ein Kohlweißling flattert im Fenchelhaar, und es sieht gar nicht aus, als habe er sich verirrt. Jetzt fliegt er von Gurkenblüte zu Gurkenblüte und steckt seinen Rüssel tief in die gelb leuchtenden Trichter. Die Hühner, Grace, Hannah und Eski klettern im Flieder herum, und vier junge Spatzen sitzen aufgereiht auf einem Stecken, der am Zaun lehnt. Bei der nächsten Gelegenheit werden sie durch das offene Törchen in den Stall fliegen und sich an der Futterschale gütlich tun. Zwei Mädchen führen ihre Pferde spazieren, ich kann sie nicht sehen, nur hören. Das Klappern der Hufe auf Asphalt – immer noch vermag dieser vierbeinige Rhythmus mir die Herztöne meiner Kinder in Erinnerung zu rufen, diesen ersten Klang des Lebens, das noch ungeboren in meinem Bauch mir schon Geschichten erzählte, von Schlaf, von Wachheit, von Neugier und Aufregung. Ich erinnere mich, wie gerne ich bei jedem einzelnen Kind in meinen Bauch hineingeschaut hätte, das Wunder zu begrüßen, und wie ich mir dann beibrachte, mich in mich selbst hineinzuträumen, in diesen Kern, der ich zugleich war und nicht mehr war. Diese Verbundenheit, die aus Verbundenheit entstand und immer weiterwächst. Ich habe noch das Geräusch im Ohr, das das Durchtrennen der Nabelschnur verursachte. Ich trage noch immer das Staunen darüber in mir, wie dem Geräusch diese Festigkeit, beinahe Härte dieses Stranges immanent war. Ich denke, dieses Geräusch war die Geburt meines Hörens.
Die Hühner scharren jetzt unter dem Flieder, in der trockenen Erde, ein Gemeinschaftsloch, um sich darin zu baden. Wie sie sich seitlich hinlegen und ihren Kopf rundherum bewegen, ist auch so ein Wunder. Aus Graces weißem Gefieder sieht man Erde wie Sand rieseln. Vielleicht ist es dieses Angebot an trockener Erde, das uns bislang vor Milben bewahrt hat. Hühner haben an und für sich eine starke Hackordnung, aber wie die drei da sich aneinanderschmiegen, die roten Kämme in die Federn der jeweils anderen versenken, wie sie gurren, wie sie scharren und sich räkeln – wie sie leise sind zusammen – im Moment kann ich mir kein schöneres Bild für Frieden vorstellen. Es tut mir unendlich gut.
Während die Hühner sich in Erde baden, tauchen die Enten – inzwischen sind es zwei, Bibi und Bobo – ihre Köpfe ins Wasser und schütten sich mit einem Ruck des Kopfes Wasser auf den Rücken. Dann stehen sie auf, recken sich und flattern mit den Flügeln, als wollten sie im Sekundentakt die Welt umarmen und umarmen und umarmen. Bibi, die Ente und Bobo, der Erpel, schnattern und quaken heute auch leise, als wüssten sie, es sei Sonntag, der erste Sonntag, den sie zusammen verbringen. Niemand hatte sie gefragt, ob es ihnen recht sei, dass man sie zusammenführe. Ich staune daher auch darüber, wie friedlich die beiden sich einen Stall teilen, wie einhellig sie miteinander unterwegs sind, wenn ich auch vermute, dass Bibi, die Ente, die schüchterne zuerst Dagewesene, jetzt etwas an Sicherheit gewonnen hat und Bobo, den Erpel, führt.
Unter dem Tisch, auf dem warmen Lattenrost, liegt Isis, die Katze, und döst. Wo Osiris, der Kater, sich rumtreibt, weiß ich nicht. Ich vermute, er liegt auf der Bank vor dem Schopf oder unter der Linde zwischen Stauden. Jedes Wesen hier hat einen Lieblingsplatz. Der Igel haust tatsächlich hinter den Brettern in der Laube. Ich habe ihn vorhin seltsam schnauben gehört. Ich habe zwar meinen Kopf durch Spinnenweben gesteckt, konnte ihn aber nicht wirklich sehen, er ist mit Heu zugedeckt. Was dieses Schnauben nun bedeutet, weiß ich nicht genau. Es klingt anders, als wenn Igel sich paaren. Vielleicht ist das ein Geburtsschnauben? Ich würde mich herzlich freuen, ich habe noch nie einen Babyigel gesehen.
Es ist ein Reichtum hier, der aus Unordnung geboren ist. Stünde der Stecken gerade, säßen keine Spatzen darauf. Stünden die Bretter nicht schräge, fände der Igel keinen Unterschlupf. Setzte das Blech keinen Rost an, kämen die Schnecken sehr schnell in das Hochbeet, das jetzt überquillt vor Grün in allen Nuancen: das von roten Adern durchzogene Grün des Randigs, dass wellende Hellgrün des Pflücksalats, das glänzende Mittelgrün der Pastinaken, das matte, rauhe Grün der Gurken, auf das ihre Ranken Kringelschatten werfen, das Herzgrün der Morning Glory, das sich zwischen das Gemüse schlängelt, das fingerhafte Grün des Ruccola, das jetzt schon nach den Nüssen zu greifen scheint, die ich erst knacken muss, um das weltbeste Pesto zu mixen, das blaublasse Grün des Lauchs, das jetzt in der Mittagswärme welkt, das spitze Dunkelgrün der Pfefferoni, das hellere Grün ihrer Früchte, das tanzend Bögen in den Strauch schreibt, das melierte Grün der Zucchini, das trichterförmig der Sonne zustrebt.
Und das ziselierte Grün des Fenchelhaars, mein Lieblingsgrün, ganz früh am Morgen ist es fast blau. Es fängt das Licht jetzt beinah ohne Schatten – deshalb könnte man das Ei des Schwalbenschwanzes auch deutlich erkennen. Rund ist es, kleiner als ein Stecknadelkopf, gelb zuerst und dann schwarz, wenn das Räupchen beginnt, das Ei auszufüllen. Nachdem das Räupchen geschlüpft ist, frisst es die Eihülle, weil sie aus Eiweiß pur besteht. Fünfmal häutet sich diese Raupe, jedes Mal frisst sie ihr altes Kleid und zeigt sich in einem neuen. Wenn sie ausgewachsen ist, ist sie so groß wie mein kleiner Finger. Dann sitzt sie im Fenchelhaar, diesen Ort nenne ich Scheitel. Mit ihren Hinterfüßen hält sie sich fest, mit den Vorderfüßen nimmt sie ein Haar und steckt es sich in den Mund und knabbert es in einer Schnelligkeit fertig, dass du laut lachen musst. Und wenn du um fünf Uhr früh dich in den Garten begibst, wenn die Tautropfen noch wie glitzernde Perlen im Fenchelhaar leuchten, dann musst du die Raupe trotz ihrer Größe suchen. Denn auch auf ihr liegen dann glitzernde Tauperlen, weil sie schläft, weil sie ruht. Und wenn du dich dann davor hinkniest, dann weißt du, du kniest vor dem Leben, vor seiner Lebendigkeit, vor der Schönheit von Wachsen und Werden.
Wenn die Raupe fühlt, es ist Zeit, lässt sich von da oben im Fenchel – 1,5 Meter Höhe – runterfallen auf die Erde. Dann findet sie ihren Weg, manchmal dauert das Stunden. Auf der Erde tut sie sich leichter als im Gras. Das erste Mal, als ich das sah, war ihr Ziel die Gurke. Da klettert sie hoch, findet einen Platz am Stamm. Dann verankert sie sich mit dem Hinterteil an diesem Stamm und lehnt sich zurück. Dann beginnt sie einen eigenartigen Tanz von links nach rechts und von rechts nach links um den Stamm herum – sie spinnt Seidenfäden um den Stamm und auch einen Seidenfaden um sich selbst. Das nennt sich Gürtel. Wenn sie fertig ist, lehnt sie sich im Gürtel zurück und verharrt. Und ganz allmählich wird sie einheitlich grün (auf Himbeeren braun) und bekommt eine andere Form, als wüchsen ihr Ohren. Wenn du dann um fünf Uhr früh das Wesen besuchst, das in der Zwischenzeit fast golden glänzt, und erkennst, die Stacheln der Gurke haben die Puppe im nächtlichen Sturm verletzt, sie lebt nicht mehr, Schwarz rinnt aus ihr, das aussieht wie Pech, dann kannst du es zuerst kaum fassen. Ameisen mit ihrem sechsten Sinn für den Tod machen sich längst an ihr zu schaffen. Wenn du dann davor hinkniest, dann weißt du, du kniest vor dem Leben, vor seiner Lebendigkeit, vor der Schönheit von Wachsein und Sterben.
Und du glaubst es nicht: In diesem Moment, da ich noch immer im Schreiben um dieses nichtvollendete Wunder trauere, fliegt ein Segelfalter vorbei! Er hat die Robinie umkreist. Seit sechs Jahren habe ich hier keinen mehr gesehen. Jetzt lehne ich mich zurück und mache eine Übung. Einmal ist es mir gelungen, da hat mich der Schmetterling erhört: Ich saß ganz still, hab seine Bewegung tief in mich aufgenommen und bat ihn, sich mir zu zeigen. Die Kamera hatte ich ruhig in der Hand. Als es schwarz wurde vor meinen Augen, dachte ich, ich hätte versagt. Da saß der kleine Kerl oder die Kerlin doch direkt auf dem Objektiv. Ich kann nicht sagen, was Glück ist, ich kann es nur mit unbeholfenen Worten beschreiben.
Wenn er nur käme, dieser Segelfalter, und Eier ablegen wollte auf meinem Fenchel! Ich kann nicht mehr tun, als eine herzliche Einladung auszusprechen. Ich würde mich in der Tat geehrt fühlen. Die herbstliche Puppe auf dem Himbeerstrunk hat damals vermutlich der Igel gefressen.
Diese Puppe – was da in ihrem Inneren geschieht – ich weiß nicht, ob irgendjemand wirklich weiß, was da in der Metamorphose geschieht. Ich stelle mir vor, dass alles Gewebe in einzelne Zellen zerfällt, dass manche Raupenzellen beginnen, sich in Schmetterlingszellen zu verwandeln, dass diese jedoch immer wieder von Raupenzellen gefressen werden bis irgendwann die Zahl an Schmetterlingszellen so groß ist, dass sie gewinnen. Wenn die kritische Masse erreicht ist, der Kampf vorüber ist, alle ihrer neuen Bestimmung entgegengehen, dann wird das einstmalige einmalige Fallen aus großer Höhe verdichtet zum zukünftigen Flug.
So schaue ich in die Welt in den letzten Wochen und meine Trauer und meine Freude wechseln sich ab in einer Schnelligkeit, dass mein Kopf müde wird von der Schwere meines Herzens. Es gab mehrere Briefanfänge an dich, lieber Peter, und ich habe sie alle bis auf einen verworfen. Dieser begann am 29.06.2020 so:
Lieber Peter,
es war Dürre, als ich Dir zuletzt schrieb. Es war Winter, als ich, bang geworden, Deiner Antwort harrte. Es war Regenzeit, als in Wien die Menschen auf die Straße gingen, um ihren Protest kundzutun, um ihre Solidarität mit BLM zu zeigen. Es war Hitzezeit, als Vorarlberger*innen eine Petition zur Erhaltung des von anderen als schwer rassistisch empfundenen Logos der Mohrenbrauerei starteten. Es war Eiszeit, als ich hörte, dass der amerikanische Präsident bereit sei, die Armee gegen das eigene Volk einzusetzen. Es ist wieder Regenzeit, jetzt, da hier das Bundesministerium für Inneres zum zweiten Mal Serverausfälle verbucht, die das Unterschreiben des Klimavolksbegehrens teilweise verunmöglichen. Es ist Dunkelzeit, da der Kanzler im Ibiza-Untersuchungsausschuss sich insgesamt 68 Mal auf sein Vergessen beruft. Es ist Lichtzeit, wenn Doseh, unser in Togo geborener Freund, uns besucht und sagt, wir seien Heimat für ihn – und es ist gleichzeitig Eiszeit, wenn er, beinahe beschämt, sagt, er sei froh, dass der Aufenthalt seiner Tochter in Chicago nicht zustande käme, er hätte zu viel Angst um sie gehabt.
Wäre es vermessen, aufgrund dieser wenigen, ausgewählten Verwerfungen zu sagen, das atmosphärische wie auch das politische Klima der Welt befände sich in einer Art Klimakterium? Es würde bedeuten, wir stünden an einem kritischen Punkt.
Meine Zeilen an Dich wurden von einem verräterischen „poing“ unterbrochen und ich stürmte nach draußen.
Die Amsel im Karton hat Körner gespuckt. Ihr Fuß scheint gebrochen und ich weiß nichts über Vogelfußschienen. Zwischen Tageslichtnelken und abgeblühtem Storchenschnabel habe ich den Karton gestellt, schwere Tröge, als Hemmung gegen Isis und Osiris. Darüber biegt sich der Pfirsichbaum, Sonne fällt durch den Regen. Tiecks Gedicht in der Fensterscheibe hat den Todesflug nicht beendet. Weiße Kreide in Schönschrift unterstreicht wohl die tödliche Täuschung. Wie schaffe ich es, dass mir das Wesen nicht unter den Fingern verstirbt? Ich ziehe das Rollo an der Falle herunter. Wehmut, Sehnsucht und der Liebe Schmerzen lass ich noch lesbar stehen. Besser wäre, die Bedrohung deutlich auszumalen, Raubvögel als Schatten, ihren stehenden Flug gegen An- und Durchflugstendenz gegen die eigene Unzulänglichkeit zu simulieren.
Es hat Stunden gedauert, in denen ich die Amsel streichelte, ihr gut zuredete, ihr Apfelscheiben und Wasser bot, bis sie, in einem kurzen Erschrecken sich fasste und davonflog. Ich wünsche mir sehr, dass sie überlebt hat. Ich hatte vergessen, das zweite, kleinere Küchenfenster mit einem Vorhang zu versehen, das stimmte mich zu all den gehörten Nachrichten zusätzlich traurig.
Der Tag hatte Schlagseite. Mir kamen die Augen einer sterbenden Meise in den Sinn, die in der Hitze regelrecht ausflossen. Ich versuchte mich in einem Gedicht.
ich muss den verstand ausschalten | er sieht | was nicht ist |
er sieht es | mit augen | die der welt | nicht geboren |
denen | in dieser hitze | das weiß aus dem glaskörper | rinnt |
die letzte träne | will ich mir nur | weinen | dem | was jenseits von leben | mir blieb |
die letzte träne | muss ich bewahren | für mich | die nicht ist |_| die nicht ist | mit offenen augen | die aus der welt gehoben | deren trauer | als letzter sinn sich gibt |
ich muss | diesen letzten sinn beklagen | der davon singt | was nicht ist | : |
ein so unveräußerlicht lied | in dem hitze die kälte einfriert |
und kälte das eis zu schmelzen anrührt |
dieses letzte lied | muss ich weinen | es klingt wie stummes erstarren |
wie tote augen | die sich in drohnen verwandeln | es klingt wie hinterhaltsschüsse auf kleine kinder |
es klingt wie ein orchester | aus korrumpierendem handreichgewinde |
ich muss den verstand ausschalten | ich muss diese träne aushalten |
in ihr pocht das herz | der amsel | des zeisigs | der mönchsgrasmücken |
in ihr rauschen kronen der wälder | in ihr muss ich | meine liebeslücken |_| verwalten |
Ich war lange nicht fähig, weiter zu schreiben…
*
Es ist schon fünf Uhr geworden. Um diese Zeit summt unsere Hauswand. Hunderte von Bienen laben sich an den Blüten des wilden Weines. Doseh hat einen Bienenstock in unseren Garten gestellt. Er hat uns erzählt, dass die Bienen, die in großen LKWs in Amerika zu den riesigen Feldern zur Befruchtung gefahren werden, gleich nach ihrer „Arbeit“ sterben, weil die Farmer sofort nach der Befruchtung die Felder niederspritzen.
Ich habe mich lange gefragt, ob unser Umgang mit Tieren, ob der Umgang von Männern mit Frauen, ob der Umgang von Weißen mit Schwarzen nicht eine gemeinsame Wurzel haben. Ich glaube, die gemeinsame Wurzel ist der Beginn von „Besitz“. Erst als der Mensch sesshaft wurde, so denke ich, konnte er beginnen zu horten und die Ernte als seinen Besitz zu betrachten. Und danach war es nie mehr genug. Weiße besaßen Schwarze, Männer besaßen und besitzen Frauen, Unternehmer*innen besaßen und besitzen die Arbeitskraft ihrer Angestellten oder Lohnarbeiter*innen, Eltern besitzen ihre Kinder, der Staat besitzt die Kinder…
Ich habe mir die Dokumentationen von Ava du Vernay angeschaut – die Insassen in den privatisierten Gefängnissen in Amerika werden als Besitz betrachtet und müssen Gewinn für die Betreiber erwirtschaften. Das ist die direkte Weiterführung des Systems „Sklaverei“, wie wir sie auch in China und ichweißnichtwosonstnoch finden, wenn man weiß, dass die meisten von diesen Insassen gar nie einen Prozess bekommen, sondern Deals eingehen, weil sie sich einen Anwalt gar nicht leisten können.
Dieses Besitzdenken ist so tief in unseren Köpfen, dass wir, sobald wir einen Menschen sehen, der ärmer oder anderer Hautfarbe ist, unsere Vorurteile bedienen, dass dieser Mensch uns etwas wegnehmen könnte, während wir selbst andererseits nach oben schauen und gerne den Reicheren angehören würden. Stell dir vor, die Menschen könnten alles, was sie wissentlich oder unbewusst als ihren Besitz betrachten im Tod auf die andere Seite mitnehmen. Ich bin überzeugt, die Welt wäre ziemlich leer. Sie wäre ein karger Mond, der von anderen Wesen im Universum (falls es sie gibt) ins Auge gefasst würde, um dort Gesteine und Erze zu schürfen.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann unterliegt allen Todsünden eigentlich dieses Besitzdenken. Sogar das Nichtstun, den Müßiggang kann man besitzen wollen – vielleicht liegt genau darin die Angst der Regierenden, ein Grundeinkommen auszuschütten. Dass Menschen ein mögliches Nichtstun besitzen. Wäre das Freiheit, über das, was ich tue und in welchem Ausmaß ich es tue, selbst zu bestimmen?
Doseh hat mir auch die Geschichte von Miles Davis erzählt, die du in deinem Brief erwähnst, kurz bevor er ankam. Ich weiß um den Rassismus hier im Land, seit ich Doseh kenne, seit Jahrzehnten. Ich weiß, wie unsere Gesellschaft mit Menschen anderer Hautfarbe, anderer Sprache, anderer Religion, anderer Sexualität umgeht. Ich weiß, wie unser System mit Frauen umgeht. Das viele Wehren, das immer noch sich ausdehnen müssende Wehren macht mich zunehmend mürbe.
Also blicke ich jetzt wieder auf die Hühner, die sich plötzlich daran erinnern, dass sie Vögel sind. Eski ist im Flieder von Ast zu Ast geflogen. Der letzte Ast verläuft knapp über dem Maschendrahtzaun und parallel zu ihm. Jetzt sitzt sie da und schaut mich an. Ich muss grinsen. Wir hatten noch nie fliegende Hühner. Aber sie dreht um, während Grace auf einem Ast abwärts rutscht. Ich kann es kaum fassen: Hühner, die auf Ästen rutschen. Es fehlt nur noch eine Schaukel!
Lieber Peter, es ist Abend geworden. Mein Sohn David ist zu Besuch gekommen, um mit meinem Mann das Feld zu begehen, das bewirtschaftet werden soll. Es ist schön, die beiden dorthin gehen zu sehen. Beide sind in blau gekleidet, des einen Haare strahlen in Weiß, des anderen in Blond. Und wie sie da gehen, ist Sonntag. Ich bin so gesegnet.
Und so sitze ich noch ein bisschen, umgeben von Getier und Gemüse und bin dankbar für diesen Tag. Der Segelfalter hat sich leider nicht mehr blicken lassen, dafür kreisen drei Segelflieger im Aufwind des Bergs. Die Tagesausflügler kehren mit ihren Autos zurück, im Hintergrund höre ich Nachbarn einander einen schönen Urlaub wünschen.
Und so möchte ich auch Dir einen schönen Sommer wünschen und hoffe, dass Dich diese Zeilen bei bester Gesundheit erreichen!
Herzlich,
Gabriele