Diskurse

Hansjörg Quaderer

Dann kam der «Kaktus».
Das Kabarett Kaktus jätete als erstes (1964–1970) den Schrebergarten.

«Wir pickeln und wir sandeln,
und niemand darf verschandeln,
das Gärtlein klein, doch fein –
es darf kein Unkraut rein!»
(Aus dem Programmheft Kabarett Kaktus, 1965)

1961 Gründung der Liechtensteinischen Landesbibliothek mit Robert Allgäuer
1963 Gründung der Musikschule Liechtenstein
1965 Gründung des LED (Liechtensteinischer Entwicklungsdienst) Widerspenstiges beginnt zu blühen. Aus vielen Ritzen artikulieren sich Stimmen der Emanzipation gegen verhockte und klerikale Ordnungen. Es gab eine Latenzphase. Im Zeitraffer: Mit der Emanzipation von Bauern gegen Landvögte und variable Obrigkeiten erheben sich Stimmen. Im Anfang war das Murren. Die Faust im Sack produziert Sätze. Der Landstrich erhielt 1806 dank Napoleon seine Souveränität. Mit der Souveränität kam die Schulpflicht.

Literatur auf dem Land? In der Provinz?
Ein beinah vorzeitliches Schweigen sticht einem in die Nase wie ein dampfen-der Misthaufen, aus dem, sporadisch und unscheinbar, Freiheitssporen blühen. Zu konstatieren sind Beobachter, Briefeschreiber, Chronisten (z.B. Johann Georg Helbert, 1809); er schreibt kurz und knapp vom Wetter, der Qualität des Heus, den Maibäumen im fernen Grabs. Zum Glück fegt ab und zu der Föhn durchs Tal. Damit herrschen klare Lichtverhältnisse.

Der kahle Boden
Mausarm, Obrigkeiten, Landvögte, Geistlichkeit und Fürsten, alleingelassen mit eigener Bauernschläue. Dazu die «natürlichen» Landesnöte, Rhein, Rüfe und Föhn. Kalamitäten und Erbärmlichkeiten wie andernorts. Im Wortlaut folgt aus der Not das Notwendige. Und Röfiblüamle.
Die Besitz-, Druck- und Bodenverhältnisse äussern sich in Erzählverhältnissen. So weit wir zurückdenken, Notdürftigkeit der Verhältnisse, Bauernschläue, Scholle und Turbaböden, Urbarmachung, Kultivierung. – Wie Peter Kaiser formulierte: «Die Mutter grosser und unsäglicher Übel ist die Unwissenheit» und die Schulen sind «Heilmittel gegen die Unwissenheit und die Selbstsucht» (Brunhart, 1993).
Die Wahrhaftigkeit, wo wäre sie das erste Mal eingelöst worden mit Redlichkeit? Die politische Selbstbefragung von Peter Kaiser, das Verfassen der eigenen Geschichte als Emanzipation von unten gegen den Strich der Obrigkeit, muss als ausserordentliche Leistung im Dienste der öffentlichen Sache betrachtet werden. Später folgten Lesezirkel. Lesebücher für Liechtensteins Schulen wurden redigiert, Landes- und Heimatkunde in einem, mit moderaten literarischen Einsprengseln.
Es gab auch die Wahrhaftigkeit von sogenannt einfachen Leuten, von Aufmüpfigen, Vorlauten, Schlagfertigen, Bauernschlauen, zum Beispiel dem «Kossuthli», wie man Martin Josef Oehri (1835–1905), Eschner Vorsteher und Landtagsabgeordneter, nannte, weil er in den sogenannten «Münzwirren» am 13. Januar 1877 einen friedlichen Demonstrationszug von mehreren hundert Unterländern nach Vaduz anführte, was ihm diesen Übernamen einbrachte nach dem ungarischen Revolutionär Joseph Kossuth. Der Landstrich hat sich durch schlagende Haus-Übernamen hervorgetan. Man spricht von Originalen, Spinnern, Tüftlern, Säufern, kurzum Devianten. Zu klären wäre: deviant von was?
Keine bahnbrechende Figur wie Franz Michael Felder, Bauerndichter, Erzieher, Sozialreformer und Rebell aus Schoppernau im Bregenzer Wald, der in einem Brief schreibt: «Ich will der Wahrheitsgeiger sein.» Hat man die Schriften und das Wirken von Felder in Liechtenstein registriert? – Rezeption vom Hörensagen oder schalltoter Raum?
1919 eröffnet Rupert Quaderer die erste Buchhandlung im Land.
Als Citoyen ist der Schriftsteller zu Redlichkeit verpflichtet. Nun sind die Verhältnisse im Lilliputstaat verbogen. Die Himmelsrichtungen verzerrt. Die spezifische Nicht-Öffentlichkeit im Kleinststaat hat etwas Brütendes. Wo man unter sich ist, sind Verklumpungen eher die Regel als die Ausnahme. Widerstände, an denen man sich wundschreibt. «Résister», das hugenottische Motto, hat seine Gültigkeit. Zum Schreiben braucht es eine grosse innere Distanz und ein Sprachvermögen, das sich im Lesen bildet. Aus der Heimatlosigkeit blüht dem Schriftsteller die Sprache, nichts als die Sprache. Das wäre das Beste, was ihm blühen könnte, in einem Land, das zunächst ein einziger Stummfilm.
Ein anderes Parlament zu sein, eine Bühne, auf der das artikuliert, ventiliert und transferiert wird, was Sauerstoff schafft, mit der Immunität, die Künstlern zustände, nicht allein mit der billigen Narrenkappe. Zubehörlos. Fall- und schrittweise zeitgenössisch wird die politische Selbstvergewisserung. Es äussert sich ein Selbstbewusstsein in Pfadfindertheatern, Schnitzelbänken, schliesslich wiederum in Form von politischem Kabarett. Das LiGa, das Liechtensteiner Gabarett, thematisiert, erörtert, persifliert die politische Agenda Liechtensteins ohne Bisshemmung von 1994 bis in die Gegenwart (Ospelt, 2007).

Lukas Bärfuss schliesst seinen Essay Freiheit und Wahrhaftigkeit (Bärfuss, 2015) mit dem Satz: «Wie viel Wahrhaftigkeit können wir uns beim Reden erlauben, ohne dafür Nachteile in Kauf nehmen zu müssen?» Die Fragen nach urban contra provinziell scheint vielmehr eine Frage der Neigung und Affinität zu sein. Der Hintergrund alleine erklärt keine Literatur, sondern wirft nur Schlaglichter. Ich nenne zwei gegensätzliche aber instruktive Schweizer Beispiele: Für Gerhard Meier war Niederbipp im Solothurnischen der Ort, wo er arbeitete. Er erschuf sich die Weite, Steppe und herbe Schönheit gewisser russischer Landschaften ganz durch Imagination. Ein Phantasiebegriff kommt ins Spiel, der überlebensnotwendig ist. Die Verwandlungsfähigkeit, die Kühnheit zur Metamorphose. Absehen von dem, was ist, die Wirklichkeit Schlacke sein lassen, zur wahren Empfindung vorstossen, die eigene Sprache finden.

Paul Nizon wagte im September 2015 in einer Rede eine Selbstdefinition, die er als kurios bezeichnet, mit dem Hinweis auf das Recht, «Schwächen publik zu machen»:

Woraus ich gemacht bin
Aus bernischem Stein und dem ländlich
Schönen von damals. Aus der Anschauung
kleinbürgerlicher Magermilch
und früher Lebensenttäuschung. Aus
russischer Seele. Aus deutschem Idealismus
und deutscher Romantik. Aus der
Hetäre Rom und der Pariser Kurtisane.
Aus dem Beispiel des Boxers und Soldaten.
Aus der Überheblichkeit des eingeborenen,
doch nie erreichten Schöpfertums.
Aus Bewaffnung und Entwaffnung.
Aus meinen Hunden.
Von daher eine lebenslange Intoxikation
von einem anderen Leben. Künstlerleben.
Eine Tendenz zum Höchsten
und Niedrigsten. Ein Gemisch aus verlorenem
Sohn, demobilisiertem Soldaten,
Partisan und Strolch. Hochmut und
Demut. Marschieren. Durchhalten
(Nizon, 2015)

 

Mai und Sommer 1968
Roman Banzer

1968 sind wir auf unseren Trottinetten ums Quartier gerauscht. Dubcek, Svoboda gejauchzt, immer wieder. In den Nachrichten sahen wir die Demonstranten und haben die ferne Welt nachgespielt. In kurzen Hosen einen warmen Frühlingsabend lang. Liechtenstein hat 1968 20’235 Einwohner und elf Gemeinden, als Verbindung zur Welt dient seit Kurzem entweder die ARD, das Schweizer Fernsehen oder Radio Beromünster, Wolfgang Haas studiert in Fribourg Philosophie und Theologie, The Chayns, die erste Beatband, spielt im Waldhotel und im Rathaussaal in Schaan, Gerard Batliner ist von 1962 bis 1970 der Regierungschef. Die westliche Welt brannte. Demonstrationen in Paris. Der Prager Frühling fand in Vaduz ein seltsames Echo. Gingen in Prag die Demonstranten gegen das kommunistische Regime auf die Strasse, solidarisierte sich in Vaduz die liechtensteinische Obrigkeit aus Fürst und Regierung mit den Revoluzzern aus Prag. Verkehrte Welt einmal mehr. Der Adel auf der Strasse.
Hans Jörg Rheinberger publiziert im Mai 1968 in der Edition Brunidor von Robert Altmann zusammen mit Roman Sprenger den Text Tage (Rheinberger und Sprenger, 1968). Vom politischen Alltag ist in den Gedichten Tage nichts zu spüren. Sie scheinen von der Gegenwart unberührt. Alexandru Bulucz schreibt im Buch Hansjörg Rheinberger – die Farben des Tastens (Rheinberger, 2015, Seite 10), dass die Gedichte eine untypische Gelassenheit und friedvolle Stimmung ausstrahlen. «Im selben Jahr veröffentlichte Karl Krolow einen Gedichtband mit dem Titel Alltägliche Gedichte.» Bulucz stellt fest, dass beide Titel für das besagte Jahr untypisch sind und fragt Rheinberger, ob es sich dabei um politischen Entzug gehandelt hat. Rheinberger antwortet, dass diese Stimmungsbilder auf Tessinaufenthalte in den Jahren 1966 und 1967 zurückgehen. Er macht deutlich, dass er sich nicht politisch entzog, sondern eine in Vaduz ganz apolitische Situation herrschte, als er wegging, um zuerst in Tübingen und dann in Berlin zu studieren. Für ihn kam damit der Mai 1968 erst im Herbst und im kommenden Sommer richtig zu tragen, als er in Berlin in die Studentenbewegung hineingezogen wurde.
1968 landet im schalltoten Raum der Sommerferien ein Ufo aus Paris in Vaduz. An Bord: Robert Altmann als Navigator mit seiner Equipe Paul Celan, Ghérasim Luca und Ricardo Porro. Sie eröffnen am Sonntag, den 4. August, in der Aula der Volkschule Vaduz, um 20.30 Uhr mit einer Lesung von Paul Celan die Ausstellung Das Buch als Kunst. Die Mission aus anderen Sphären sollte zehn Tage dauern. Neben Celan las der rumänische Surrealist Ghérasim Luca das Gedicht passionément. Hans-Jörg Rheinberger erinnerte sich blass an Celans Lesung, und intensiver an den Auftritt von Ghérasim Luca mit passionément. Ricardo Porro, dem wir als Architekt das Centrum für Kunst verdanken – seinerzeit Professor an der école des beaux art in Paris – sprach über Methoden und Konzepte in der Architektur. Jean-Pierre Burgart sollte eine Diskussion über die Studentenunruhen leiten, erschien wegen wichtiger Verpflichtung am französischen Fernsehen nicht und wurde von Josef Wolf als Diskussionsleiter vertreten. Der Meinungsaustausch dauerte laut Marc Ospelt im Liechtensteiner Volksblatt über zwei Stunden und musste abgebrochen werden (Ospelt, 13. August 1968). Warum auch immer? Auf alle Fälle nicht wegen gewaltsamen Ausschreitungen.
Die Mission war erfolgreich. Robert Altmann und seine Freunde legten im Mai und Sommer 1968 den Grundstein für die zeitgenössische Literatur im Land. Er war mit seiner Edition Brunidor erster Verleger für Hans-Jörg Rheinberger und dessen Freund Roman Sprenger. Er war mit seiner Ausstellung Das Buch als Kunst mitunter der erste Literaturvermittler. Robert Altmann war nicht nur Kunstverleger, Sammler, Künstlerfreund und Künstler, er war auch Organisator von grossen und kleinen Ausstellungen. Eingehend ist dieses Ereignis im Quaderno III von Vreni Haas, Norbert Haas und Hansjörg Quaderer aufgearbeitet (Haas, Haas und Quaderer, 2012).

 

Was darf von Literatur aus Liechtenstein erwartet werden?
Hansjörg Quaderer

Ich erinnere mich, wie im Fernsehen, an der Olympiade Mexiko 1968, die beiden Leichtathleten mit erhobener Faust ein Zeichen für die Black Panter machten. Ich begriff als Bub nicht, was das bedeutete, aber an das Bild und die Geste erinnere ich mich bis heute. Der Mensch, d.h. drei amerikanische Astronauten, landete vorher auf dem Mond, als wie die Frauen in Liechtenstein das Stimmrecht erhielten. Die Bürgerrechtsbewegung erlitt in Liechtenstein an den Grundrechten zwischen 1971–1984 eher einen Ermüdungs- als einen veritablen Durchbruch. Ein skandalös später Durchbruch. Die notorische Verspätung auch hier.
Eine liechtensteinische Literatur zu postulieren hat etwas Zwanghaftes und Müssiges. Vielleicht müsste man genauer von Einzelstimmen sprechen, die Literatur produzieren, und in Einzelfällen von Büchern sprechen, die aus einer gewissen Notwendigkeit entstanden sind. Literatur von Liechtensteiner Provenienz ist bloss im Kontinuum von internationaler Literatur zu verstehen. Literatur entsteht primär aus Literatur, aus Sprache, nicht aus irgendetwas Liechtensteinischem. Es gibt keine Liechtensteiner Physik, wie es keine Liechtensteiner Germanistik gibt. Der sogenannte Liechtenstein-Bezug als Konzept ist hilflos bis verkrampft. Es gibt kein Schreiben ohne zu lesen, nach Affinitäten und Wahlverwandtschaften.
Welches Lesen und Schreiben geht der Literatur in Liechtenstein voraus? Welchen Sinn hätte das Adjektiv liechtensteinisch? Wäre es allenfalls die Qualität oder der Grad von Aneignung von Fremdem? Sich am eigenen Land abzuarbeiten, muss nicht per se verkehrt sein, allein es zählt das Sprach- und Gestaltungsvermögen, und nicht die Vorlage. Wir reden von Literatur als sehendem Fleck auf der Bindehaut einer Gesellschaft. Was impliziert Literatur auf dem Lande? Was hiesse land/läufig schreiben? Was bedeutet das Denkmuster vom Rand und vom vermeintlichen Zentrum? Gilt nicht die Ubiquität? Wir definieren uns von den Rändern. Was uns ausmacht, sind Lücken und Ränder. Ich sehe Übergangsformen, Metamorphosen, Verpuppungen ... Eigene Wahrnehmungen und Brechungen tauchen nicht aus dem Nichts auf. Woher schreibt sich Literatur in Liechtenstein? Was gehört erzählt? Was sind die Stoffe, woran misst sich die Sprache? Welche Schlüsselmomente existieren? Wann beginnt der «freie Gebrauch des Eigenen» (Hölderlin, 1963, Seite 788)? (Hölderlin in einem Brief an Böhlendorf, 1801) Wann wird Liechtenstein zum Weltmodell im Dürrenmattschen Sinne? Die Kriterien Sprache, Stoffe, Zeitdiagnose, die wir diskutierten, erinnern an Goethes Satz von «Stoff, Gehalt und Form» von denen er schreibt: «Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.» (Goethe, 1962, Seite 230) (1826, Maximen und Reflexionen)
Im Gespräch mit Roman Banzer nach der Lesung von Miss November liess Stefan Sprenger das für seine Arbeit programmatische Wort fallen: «Peter Geiger weiterschreiben» (Oehri, 2012). Ob die Geschichten, die in Liechtenstein erzählt werden, von der Geschichtsforschung beglaubigt werden müssen? Ich bin skeptisch. Die zentrale Frage für den Literaten lautet: ob und wie man seinem Stoff gewachsen ist, v. a. durch Sprach- und Gestaltungsvermögen? Es kommt auf die Erzählperspektive an: Die Geschichte von unten wird eine Geschichte im eigenen Namen und stellt sich anders dar als das, was protokollarisch und sekundär in den Herrschaftsarchiven vorliegt. Ich plädiere ohne Einschränkung für einen narrativen Ansatz der «Microhistoire» mit den kühnsten Perspektivwechseln, gespiesen aus einer Mentalitätsforschung, welche Detailwahrnehmungen von Alltäglichem notiert, mit Aufmerksamkeit für korrespondierende Zettel, Schriebe, Redensarten, Usancen, Räusche, Tagträume und Gewohnheiten, die jede Lebenslage begleiten und erhellen. Das Leben «in den geringsten Zuckungen wiederzugeben» (Büchner) ...
Die Geschichten eines Landstrichs mit seinen Lebensläufen bietet Stoff in Hülle und Fülle. Eine narrative Breite tut sich auf. Wie wird aus dem Typischen und Bedingten von Familiärem, ein Charakter in all seinen Widersprüchen? Darin liegt die ganze Destillierarbeit. Dass der Literat im Fundus historischer Darstellungen wildert, gehört zu seiner Lizenz, umgekehrt ist es dem Historiker nur bedingt zu-gestanden, in den Feldern der Fiktion zu grasen.
Was darf von Liechtensteins LiteratInnen erwartet werden? Wer schreibt den kaleidoskopartigen totalen Roman von Liechtensteins Mythen, Biographien und Katastrophen im 20. Jahrhundert? Liechtenstein, Land und Leute, bleibt eine Baustelle. Es liegen immer wieder Hunde und Geschichten begraben, über alles Ausschweigen hinweg. Irgendwann tritt das Land zurück, und Ubiquität stellt sich ein. Das Sprechen in der ersten Person Singular in Deckungsgleichheit mit der ganzen Person. Die Sprachwerdung im Massstab 1 : 1, was Iren Nigg (Nigg, 1988) in Fieberzeit auf grandiose Weise gelang. Die Sprachwerdung, das heisst wenn Schauen und Sprache in eins gebracht werden, wofür die Dichtung von Michael Donhauser ein leuchtendes Beispiel.

 

Eine kurze Bestandesaufnahme
Roman Banzer

Evi Kliemand
Rheinberger und Sprenger haben 1968 den Grundstein der zeitgenössischen Literatur in Liechtenstein gelegt. 1973 erscheint Evi Kliemands Kieseliris (Kliemand, 1973). Ein äusserst aufwändig und bibliophil gestaltetes Text- und Bildwerk mit beachtenswerten Holzschnitten. Bemerkenswerterweise wieder in der Edition Brunidor, Paris, erschienen. Kliemand ist bis heute vor allem als Naturlyrikerin von anhaltender Bedeutung.

Hansjörg Quaderer
1983 erscheint Hansjörg Quaderers frühe Fassung des Textes versuch über eine landschaft  (Quaderer, 1983). Quaderer mäandert mit seinem Text durch das uns umgebende Rheintal, übersetzt die Landschaft in Sprache und versucht aus dieser zu lernen. Das Land wird zur Sprachlandschaft, die Sprachlandschaft zur Sprache, Sprache konstruiert Wirklichkeit. 2003 folgt: gretsch – fron und transhumanz  (Quaderer, 2003). Er schreibt «liechtenstein war von 1921 bis im märz 2003 ungefähr ein staat» und behauptet, dass sich Liechtenstein in einer wilden Phase einer säkularen Staatswerdung befindet. Quaderer ist der Sprache seiner Heimat verbunden. Mundart, seine Muttersprache, mischt sich mit dem Hochdeutschen, Stiefmuttersprache der Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner. Dass der exakte Diskurs auch im Dialekt möglich ist, als Ausdruck eigenständigen Denkens, besonders die Verdichtung der Idee auf eine formelhafte Kürze, auf den eingedampften Fond, scheint hier nur in der Sprache des Alltags, im «Werktigshääs» möglich. Die Präzision der Formulierung erschliesst neue Perspektiven, ist vermeintlich verquer und interpretativ zugleich.

Michael Donhauser
1986, es sind fast zwanzig Jahre vergangen seit Mai 1968, publiziert Michael Donhauser seine ersten Prosagedichte unter dem Titel Der Holunder bei Droschl in Graz (Donhauser, 1986). 50 Gedichte mit Titeln wie: Die Nacht, Der Kastanienbaum, Die Walnuss, Die Amsel, Die Schlüsselblume. Es fällt auf, dass die ersten zwanzig Jahre der Literatur sowohl bei Rheinberger, Kliemand und auch Donhauser dem Motiv der Naturerscheinung gewidmet sind. Sie verdichten das Erleben der Landschaft, des Wetters, der Tier- und Pflanzenwelt. Keinem Autor und auch keiner Autorin aber ist es gelungen, ein derartiges Echo in den Zeitungen auszulösen wie Donhauser 1987 mit Edgar  (Donhauser, 1987). Walter Vogl (Vogl, 1987) schreibt in der Basler Zeitung: «Edgar ist das zweite Buch Michael Donhausers in der Reihenfolge seiner Publikationen. Eigentlich ist es ein Erstling. Denn hier erschafft sich ein Autor auf überzeugende Weise aus seinen biographischen Voraussetzungen heraus und schreibt sich frei in einem Buch, das über die Bezeichnung ‹Bewältigungsliteratur› erhaben ist.» Auch die NZZ rezensiert. Donhauser publiziert bei Residenz, Droschl und Engeler. 2005 gewinnt Michael Donhauser den Ernst-Jandl- und 2009 den Georg-Trakl-Preis für Lyrik. Niemand aus Liechtenstein kann ähnliche Erfolge vorweisen. Seit 1986 veröffentlicht Donhauser Prosa, Lyrik und Essays und hat vereinzelt Werke von Arthur Rimbaud und Francis Ponge aus dem Französischen übersetzt. Er bezeichnet sich als österreichischen Autor und macht sein Verhältnis zum Geburtsland deutlich.

Iren Nigg
«14. Mai 1987. ‹Mai› in der Tangente. Iren Nigg liest Prosa, Claudine Kranz liest Gedichte, Regina Marxer zeigt ihre neuesten Bilder.» So stand es im Ankündigungstext in den Zeitungen. Nigg las die Texte Einmal Heimat, Mit angehaltenem Atem und Abgetrieben. Fieberzeit erschien 1988 (Nigg, 1988). Ein Büchlein mit 16 Texten, 77 Seiten stark. In den Texten, den Wörtern wird das Land konkret, Neni, Schaan, Sax und Fürstentum. Glück als Leitmotiv, oder die Suche nach dem verlorenen Glück. Als roter Faden zieht sich dieses Motiv durch die Texte, hinterlässt Melancholie und die Angst, dass es schiefgehen könnte mit all den Hauptfiguren, mit Mora, Lise-lotte, Xenia und Bibine. Das lyrische Erzählen, das mystische Umkreisen, das die Dinge von einer anderen Seite sichtbar macht, das bekannte Gewichtungen verlagert, Ausrufezeichen dort setzt, wo die Prosa einen Punkt macht, ist besonderes Kennzeichen der Niggschen Erzählsprache in ihrer magischen Realität. 2011 erhält Iren Nigg den European Union Prize for Literatur.

Claudine Kranz
Gegenlicht ist die jüngste Gedichtsammlung von Claudine Kranz (Kranz, 2000). 57 Gedichte, Gegenwart ist in allen, oder Gegenwärtigkeit. Das Kleine, Nebensächliche, die Präsenz des Alltäglichen in Worte geschrieben.
Vom Birnbaum
/ den drittletzten
/ Kuss pflücken
/ zwei hängen lassen
/ sie später zurücktragen
/ zur allerersten
/ Liebe (S. 51).

Die Liebe, immer wieder das feine Verwobensein in ein Menschennetz. Hintergründig einfach können die Gedichte sein. Und trotzdem transformiert die lyrische Verdichtung das Wirkliche, das Normale eine Spur breit nach oben. Es entsteht der doppelte Boden, unter dem sich die eigene Sinnfindung verbirgt. So hat Valérys Grundgedanke zur Dichtung hier wohl seine besondere Ausprägung. Dichten heisst, in die Urschichten der Sprache dringen, wo sie einst Zauber- und Bannformeln hergab und immer wieder hergeben kann. Wechselnde Klangwirkungen und Bedeutungszonen so lange kombinieren, bis die eine Kombination geglückt ist.

Stefan Sprenger
1994 veröffentlicht Stefan Sprenger Filme und Gruben, das 1997 Teil seiner Textsammlung Vom Dröhnen (Sprenger, 1997) wird. Immer noch treibt das bittere Wort von Ludwig Hohl sein Unwesen, dass Literatur im Kleinstaat als «Theologie oder Heimatschutz» verstanden wird. Stefan Sprenger hilft dem ab. Er schreibt eine «sprengende» Prosa, zeigt Biss, taucht ein, beweist, brütet über dem, was faul ist, geht den Dingen auf den Grund, indem er sie ausreden lässt. Das Geld ist noch nicht Leitmotiv, zieht sich danach als roter Faden durch das Werk. Schon in einer seiner frühen Erzählungen Königsgrab beerdigt das Geld die Mammongläubigen. Der Autor greift eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme Liechtensteins auf. Das Fürstentum und die Figuren im Tresor der Bank drohen zu ersticken. Und genauso, wie der tonnenschwere Tresor endlich zum goldenen Gefängnis wird, buchstäblich den Hang runtergeht, so geht metaphorisch auch das Land Liechtenstein den Hang runter, begräbt sich im goldenen Käfig, wird hässlich, aggressiv, fremdenfeindlich und selbst so hohl, wie das die Figuren in der Erzählung voneinander behaupten. Denselben Stoff hat Stefan bereits in seiner Mundarterzählung Dr Hans und sini Bank (Sprenger, 2001) gewählt, und auch die beiden umfangreichen Aufsätze in Katzengold (Sprenger, 2003) behandeln dieses Motiv. In der Erzählung Vandalin, einem Monolog für vier Stimmen, lotet er den Stoff weiter aus und vertieft diesen im Jahr 2015 mit dem Theaterstück Rubel, Riet und Rock ’n’ Roll.

Mathias Ospelt
Und noch einer, von dem man sich endlich den Roman über dieses Land wünscht. 2004 erschien das erste und letzte erzählende Buch von Mathias Ospelt Als Vaduz noch seinen Hafen hatte  (Ospelt, 2004). Was hat er nicht alles für sein Kabarett erfunden. Figuren, Motive, Handlungen, Plots, Spannung, Humor, Hinterlist … das Sammelsurium der heimischen Niedertracht, das Wesen des kleinen Bankangestellten, die Sehnsüchte nach der grossen Welt, Reiche und Schöne, Gangster und Edelleute … Ospelt schreibt in seinem Buch: «Aufgrund dessen, was in den letzten Jahren meine Aufmerksamkeit gefordert hat und fordert, habe ich mittlerweile fast vergessen, was ich eigentlich immer werden wollte: Dichter sein. Erzähler. Geschichtenerzähler.» – «Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heisst: Sich selber lesen.» So Max Frisch im Tagebuch 1944 (Frisch, 1985, Seite 22).

Wer hält die Feder hin? Wer erzählt welche Geschichten? Wer nimmt welchen Stoff auf? Wer unternimmt die literarische Zeitdiagnose? Wer erzählt von Hans Adam von Liechtenstein und seinem Widersacher Heinrich Kieber? Wer erzählt von Geld, Arbeit, Hypothek und dem Monopoly der Banker? Wer von denen, die im Prekariat leben, von den Familienhaushalten, wo zwei Einkommen nicht reichen, von denen, die den Staat dafür benutzen, den eigenen Säckel zu füllen? Sind es: Sabine Bockmühl, Jens Dittmar, Rainer Nägele, Walter Nigg, Patrick Boltshauser, Armin Öhri, Simon Deckert, Maurus Federspiel?

 

Dialekt: Sprachwirklichkeit und Mundartliteratur 

Hansjörg Quaderer: Zum Dialekt, der Fremdsprache des Einheimischen. Der Dialekt ist nicht meine Muttersprache, sondern meine Vater-, Geschwister-, Neni- und Nanasprache. Eine Sprache von den Eingeweiden, mit Heuduft der Erinnerungen. Eine Sprache von unten. Sprechblasen der Leute, Geschichten, Wendungen, Sprüche, Redensarten, Grobheiten, Drohgebärden, Flüche, Beschwörungen, Geplänkel, Redeschlaufen, Kreiselsätze, Wiederholungen, Litaneien, Verallgemeinerungen: das Suppenhafte und Gewöhnliche. Eine dürftige Dorfsprache, aber stimm- und herzhaft. Mit Jiddischem gewürzt, mit Bauernschläue durchsetzt. Gerafft und zugreifend. Ambivalent, hin- und herbeutelnd, Die Sprache von wenigen, die immer weniger werden. Linkisch und griffbereit, mit Südfenster zur Schriftsprache. Der Dialekt ist «Werktigshääs». Der Dialekt ist die Fremdsprache des Einheimischen.

Roman Banzer: Ganz beachtlich! 1962, noch vor dem Einsetzen der Moderne in der Literatur in Standardsprache, erschien Edwin Nutts erster Mundartband Auf einsamen Wegen  (Nutt, 1962). Typoskriptspuren seiner Arbeit führen zurück ins Jahr 1959. Jürgen Schremser  (Schremser, 2012) legt im ersten Band der Reihe Mundartliteratur Liechtenstein eine umfassende Monografie zu Edwin Nutt vor. Ida Ospelt-Amanns erstes Buch S Loob-Bett  (Ospelt-Amann, 1966) mit Zeichnungen von Eugen Verling erschien 1966. Mit Nachdruck sei an dieser Stelle auf Felix Marxer mit seiner unvergleichlichen Erzählung Der Coloradokäfer hingewiesen. Aus der Szene des Mundartrock sind die Bands Philomena, Fine Young Gääsler Guuga und zot-off zu nennen. In jüngster Vergangenheit Lucy’s Fair mit dem Album, das den Titel Grande Nation trägt.

 

Desiderate, Konsequenzen und Forderungen

Zu sprechen wäre noch über Vieles:
- Niklaus Meienberg und seine Geburtstagrede für Franz-Josef II.
- Die trockene Kürze der Gedichte von Rita Fehr und Anna Marie Jehle
- Roberto Altmann als Mitbegründer des Lettrismus
- Das Gedicht Todtnauberg von Paul Celan, das 1968 H. C. bei Brunidor erschien
- Die bedeutende Rolle, die Robert Allgäuer immer innehatte
- Gustav Kaufmann und Gerhard Beck, die literarisch verstummt sind
- Von den Talenten Benjamin Quaderer und Isabel Wanger

Unsere Forderungen:
1. Die Arbeit in der Literaturvermittlung ist mit grosszügiger Förderung (vom PEN-Club bis zu den Literaturtagen) zu verstetigen.
2. Das Literaturhaus erhält analog zum Literaturhaus Aargau drei Mitarbeiterstellen.
3. Eine Schreibschule ist zu schaffen.
4. Das Robert Altmann Literaturarchiv (inklusive Institut für Buchkunst) ist zu etablieren.
5. Das Centrum für Kunst ist als Sitz für das Literaturhaus, das Literaturarchiv, die Kleine Schule des Schreibens und für eine Stelle der Avantgardeforschung zu gewinnen.
6. Vergessen Sie den Liechtensteinbezug, wenn Sie die Literatur fördern; die Liechtensteiner Literaturtage sind universell, wenn auch deutschsprachig, kennen keine Landesgrenzen, messen sich an internationalen Massstäben und Akzenten ...
7. Das Land stiftet einen gut dotierten Literaturpreis.

Autour de Vaduz
Tout autour de Vaduz il y a des Oubliés / di Vergässana
des Omis / di Abrasierta
des Apatrides / di Schtaatalosa
des Réfugiés / Flüchtling
des Exilés / d’ Exilanta
des Inconnus / d’ Unbekannta
des Internés / di Internierta
des Perdus / di Verlorana
des Deplacés / dia, wo fähl am Platz sin
des Paumés / dia, wo sich verlora vorkond
des Laissés pour compte / di Abgeschobna
des Emigrés / di Uusgwandrata
Tout autour de Vaduz il y a / Um Vadoz ummi gits
Des Fuyards / d’ Uusrisser
Des Désintegrés / dia, wo ned drzua ghöran
(Bernard Heidsieck, 1998; Autour de Vaduz, poésie sonore, 1974, im Auftrag des Centrums für Kunst)

 

Rede zum Liechtensteiner Tag des Buches am 15. Februar 2016; als Text erschienen im Jahrbuch 10|2016 des Literaturhauses am 16. September 2016