Ende Mai, Anfang Juni
Liebe Marjana,
„entschuldige meinen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit“ – das soll Charlotte von Stein irgendwo geschrieben haben. Der Satz wird aber auch Goethe, Voltaire, Churchill, Mark Twain, Blaise Pascal und vielen anderen zugeschrieben. Ich musste kurz nachdenken, um ihn zu verstehen, aber natürlich ist klar, dass in der Kürze die Würze legt und die Länge oft nur ein Zeichen von Disziplinlosigkeit, Konzentrationsmangel und Ausuferung ist. Meiner Mutter, die schon sehr neugierig ist auf den Briefwechsel zwischen dir und mir (sie verweigert das Internet, bekommt nach deinem fünften Brief einen Ausdruck von allen zehn Briefen), habe ich letztens diesbezüglich geschrieben: „Mein vierter Brief ist relativ kurz ausgefallen, dafür wird der fünfte wieder ein überbordendes, mäanderndes, ungestümes Ungetüm! Ich habe schon begonnen damit. Briefe, schöner Götterfunken! Schönes Götterflunkern!“ – Hurra und Heureka, in diesem Brief tummeln sich die Giganten: Götter, Goethe, Beethoven und Scheerbart: „’Na, Onkelchen’, sagte das Nilpferd, ‚wohin willst du?’ – ‚Ich habe mich verstiegen!’, erwiderte ich traurig.“ Wohingegen ich mich nicht versteigen will, lieber stürze ich ab. Goethe ist ein Bergmassiv, ich verstehe nicht, wie er so unglaublich viele Briefe schreiben konnte! Irgendwelche Quellen, die ich nicht überprüft habe, behaupten, dass von ihm 12.000 Briefe erhalten sind, allein an die oben erwähnte Charlotte von Stein hat er ca. 1500 geschrieben … Und er hat ja auch unglaublich viel anderes geschrieben! Wie um alles in der Welt hatte er Zeit für einen Faust, d.h. zwei Fäuste, nicht nur für ein Fäustchen (ich lache gern in selbiges, hihi). Und hierher passt jetzt gut ein Zitat von Werner Kofler, von dem ich gerade das Gesamtwerk gekauft habe: „Ich kann dem Halblustigen schwer widerstehen.“ In meinem Fall ist es oft so, dass ich mich vor der Arbeit drücke, indem ich Briefe schreibe, muss ich selbstkritisch zugeben. Brief ist Freiheit, nix Arbeit, Breif (bitte nicht korrigiren!) darf Fehler haben, muss nix viel gebügelt und überfeilt sein, Wildwuchs ist möglich, Überschwang und Überschnapp, es gibt auf jeden Fall eine Leserin, einen Leser (zumindest eine Person liest, was man schreibt – das ist oft schon viel für jemanden, der schreibt. Her mit der Dose Mitleid!) … Und jetzt habe ich gerade von Rüdiger Görner das Buch Demnächst mehr. Das Buch der Briefe bestellt. Kennst du das Buch Der Fieberkopf von Wolfgang Bauer? Ein grandioser, wilder, durchgeknallter Brief-Roman. Mit meinem Freund Wolferl war ich letzten Sommer in Graz, um beim Droschl Verlag eine Wolfgang Bauer-Sonderausgabe abzuholen (W. bestand auf persönlicher Abholung) und danach das Grab von Bauer zu besuchen (Max Droschl skizzierte uns den Weg dorthin – allein diese Skizze! Ich muss sie dir einmal zeigen). – Was für ein herrlicher Tag das war! Ich muss beizeiten darüber schreiben, auch über die Vorgeschichte … Wolferl hatte übrigens letzten Sonntag Geburtstag, am selben Tag wie Johnny, von dem ich dir im ersten Brief erzählt habe. Ich rief beide an. Wolferl hat eine Freundin, der hat er ein Haserl mitgebracht. Er hat das junge, kleine, schneeweiße Tier vor einiger Zeit in der Bio-Abfall-Tonne gefunden und ihm sofort den Namen Miles gegeben (W. liebt neben den Stones, Neil Young, Lou Reed, Patty Smith, Iggy Pop u.a. auch Miles Davis). Später stellte sich heraus, dass Miles ein Weibchen ist. Die weiße Häsin(?) ist benannt nach einem schwarzen Trompeter … Johnny fragte, ob ich mit ihm auf ein Bier gehe. Wir waren dann in einem Lokal mit dem Namen Zwergerl, wo wir im Freien saßen, zu sechst (zwei davon waren zufällig dazugestoßen, die wussten nichts vom Geburtstag) – auch keine große Feier zum 60-er. Um auf Miles zurückzukommen, denn als du von Arthur geschrieben hast, musste ich sofort an ihn denken, von Fritz ganz zu schweigen, aber darüber später … Zu spät heißt das Buch von Kofler, aus dem ich vorher zitiert habe, das ich schon länger als Einzelausgabe besitze … Arthur! Ich bin beeindruckt, dass du am Körperbau der Spinne erkennen kannst, dass es sich um ein Männchen handelt! Du kennst dich also nicht nur bei Pferden, sondern auch bei Spinnen aus. Die Spinne Arthur und die „Minifliegen“, wie du schreibst! Auf unserem schwarzen Brett (richtig sagt man anders, Pinnwand?) hängt seit einiger Zeit eine altbekannte Karte, darauf ist das Foto eines Lausbuben, daneben steht: „Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Artur.” – Die Karte sah ich zum ersten Mal bei einem deutschen Künstler in dessen Haus in Civitella d’Agliano im Süden unten … Ich will aufhören zu bafeln, so gern ich das tue! Ich will dir lieber die angekündigten Neuigkeiten von Fritz mitteilen (diesen Samstag wird er übrigens in der Zeitung stehen, im STANDARD. Wojciech Czaja hat ein „Wohngespräch“ mit mir geführt, darin rede ich u.a. über Fritz.), der wieder bei uns ist, d.h. seine Nachkommen, seine Kinder! Wir haben gezählte sieben Fliegen in der Wohnung, die alle Fritz sehr ähnlich sind und sich auch sehr ähnlich verhalten. Es muss sich um seine Kinder handeln! Wahrscheinlich war Fritz weiblich und hat in unserer Wohnung Eier gelegt. Leider kenne ich mich bei Fliegen nicht aus, ich bin kein Ornithologe, hoho. Wohingegen du dich bei Pferden und Spinnen auskennst! Und Goethe hat Charlotte 1500 Briefe geschrieben! Ich fühle mich im Moment ein bisschen unwissend und mickrig. Ich stand einmal vor der mächtigen und auch wegen ihrer hohen Schuhe sehr großen Drag Queen Dusty O., ihren gewaltigen Vorbau vor der Nase, sah zu ihr auf und sagte mit schwacher Stimme: „Ich fühle mich so klein und jämmerlich“, da sagte sie mit verächtlicher Miene: „Das bist du auch!“ Aber immerhin schreibe ich dir, Marjana von Feldblume, wie ich dich jetzt einmal nennen will (wegen Arthur und den Minifliege usw.) fünf Briefe … Und vielleicht, wer weiß … Ich liebe unsere kleinen Drei: Arthur, Miles und Fritz. Wie heißen eigentlich deine Pferde?
Es gibt für mich fast nichts Schöneres als einen Brief zu schreiben, ich bin so frei. „Es lebe die Freihei, tandaradei!“ Wiederholung tut gut, Wiederholung macht Mut … In Tosters, wo ich aufgewachsen bin, gibt es eine Mauer, auf der steht seit ewigen Zeiten ein Graffiti, dabei muss ich immer an F.K. Waechter denken: „Es lebe die Gerech“, steht dort auf dieser Mauer, mehr nich (das bitte nicht korrigieren!). Fritz war ein wunderbarer Cartoonist, Zeichner, Autor, Mensch … „Herr Bauer, ich glaube, ihr Huhn hat Fieber“ oder so ähnlich ist auch von ihm. Daran musste ich gerade denken, weil meine Frau kürzlich, als die sieben Fliegen gleichzeitig aufflogen, meinte: „Das ist ja wie auf dem Bauernhof!“
Weil du nach Kritzendorf gefragt hast: Zorica heißt die Frau, die uns ihr Stelzenhäuschen im Sommer überlässt, damit wir uns um ihre Pflanzen kümmern, damit sie nach Serbien kann, um ihre Mutter und Verwandten zu besuchen. Was Gelsen anbelangt, war ich in Kritzendorf immer positiv überrascht. Die letzten drei Sommer waren kaum welche von diesen Insekten unterwegs (du magst Insekten, hast du geschrieben – sehr sympathisch!), von einer Gelsenplage konnte nie die Rede sein … Und stell dir vor, einmal sang uns auf der Terrasse unseres Stelzenhäuschens eine 15-jährige Ukrainerin ukrainische Lieder vor! Herzergreifend, herzerwärmend. Bei einem internationalen Literaturfestival in Finnland saßen einmal in der Nacht mehrere Autorinnen und Autoren zusammen, da kam die Idee auf, dass alle ein Lied aus ihrer Heimat singen sollten. Ich erinnere mich am deutlichsten an die ukrainische Autorin, weil sie, während sie ihr todtrauriges Lied sang, zu weinen begann … Ich sang übrigens ein Lied von Qualtinger und Heller, das niemand verstand (der zweite deutschsprachige Festival-Teilnehmer Thomas Lang war an dem Abend nicht dabei). Ich sang das schwarze Lied inbrünstig, es kam gut an als gefühlvolles Wienerlied, der Refrain, ins Hochdeutsche übersetzt: „Bei mir seid ihr alle im Arsch daheim, im Arsch dort ist eure Adresse …“ Das goldene Wiener Herz bringt mich wieder einmal zum Golden Molden. Du hast gefragt, ob ich ein Gelsen-Gedicht bieten kann, nein, aber Molden ein Gelsen-Lied, darin die Zeilen (wortwörtlich, buchstäblich aus dem Booklet): „du hosd highaud und ned droffm / und so homs hoed weida gsoffm / vo dein bluad / sog geds da guad“ – Sag, geht es dir gut?
Kein Gelsen-Gedicht, aber ein Erdmännchen-Gedicht habe ich, das ich dir zeigen könnte. Es ist in einem Buch drin, von dem ich letzte Woche überraschenderweise fünf Belegexemplare zugeschickt bekam – ich hatte ganz vergessen, dass ich für die Anthologie was eingereicht habe, das Buch heißt Die Bienen halten die Uhren auf, Untertitel: Naturgedichte, erschienen bei Reclam. Und darin findet sich ein einziges Gedicht von mir, wohl eines meiner besten, hier ist es in voller Länge:
Mann im Zoo
Geht es mir nicht so gut,
gehe ich in den Zoo
und rede dort
mit den Erdmännchen.
Danach geht es mir besser.
Na, wenn das keine Weltliteratur ist, weiß ich auch nicht!
Eines meiner Bücher heißt übrigens Was mir die Erdmännchen erzählen, das wurde von einem gewissen Herrn Nüchtern gnadenlos verrissen. Er schrieb mit voller Wucht, das Buch sei „langweilig und halblustig“ usw. Aber ich habe natürlich schon schlimmeres erlebt. Hast du auch schon Verrisse einstecken müssen, vernichtende Rezensionen, die Boden weg unter den Füßen machen, ums schön zu sagen? Schwamm drauf! Was einen nicht umbringt, blabla.
Jan Larri – das Buch von ihm ist leider nicht lieferbar, zumindest nicht auf Deutsch, hat mir meine Buchhändlerin mitgeteilt, sie habe nur die russische Ausgabe gefunden. Leider kann ich kein Russisch. Mein Sohn kann bissl Russisch, weil er lange mit einer Russin aus Moskau zusammen war. Er war immer wieder in Moskau, auch in Petuschki, wo Verwandte von ihr wohnen (eines meine Lieblingsbücher war lange Die Reise nach Petuschki von Wenedikt Jerofejew, ich konnte einmal viel daraus auswendig …) – sie, Margarita, war immer wieder in Wien (einmal sogar zwei Monate am Stück). Ach!
Wenn du in Wien bist, könnten wir uns doch einmal treffen, nicht? Also ich würde sehr gern. Zum Beispiel in einem schönen Wiener Café, von denen es zum Glück noch viele gibt. Übrigens die Lokale, die ich im vorigen Brief aufgezählt habe, gibt es alle, und ich war auch schon in allen drin, in den wenigsten allerdings in letzter Zeit, sondern in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. In der Blue Box z.B. war ich das letzte Mal vor 100 Jahren. Nur im Gasthaus Zum lustigen Bauern war ich noch nie, aber da will ich im Sommer hin, um dort den Tänzer und Dichter Udo zu treffen, der in der Nähe ein Häuschen gekauft hat, in Muckendorf, nicht weit von Kritzendorf … Vorfreude auf den Sommer, in dem hoffentlich Corona endlich vernichtend geschlagen sein wird, und zwar weltweit und absolut. „Träum weiter!“, sagte mein Sohn früher oft zu mir.
Hätten wir uns mehr über Corona unterhalten sollen? Nein, das haben schon genug andere getan, denke ich scharfsinnig. Meine Friseurin – ja, ich habe endlich wieder eine super Frisur! – hat gemeint, sie habe es satt, über Corona zu reden. Ich pflichtete ihr bei, danach redeten wir über Corona … „Corona, Corona, where have you been so long …“
Jetzt ist gerade eine Ankündigung der „Sommerakademie Schrobenhausen“ hereingekommen. Unter dem Motto „soziale Distanz – poetische Nähe“ wird u.a. ein Kurs angeboten mit Kerstin Hensel, von der ich gerade vor kurzem zum ersten Mal gehört habe: „Der Autor in Welten der Anderen“. Ein Kurs von Norbert Niemann nennt sich: „Ich und Du“. Am liebsten besuchen würde ich den Kurs von Senthuran Varatharajah: „Wie man sein Leben erzählt. Über autobiographische und autofiktionale Praxen.“ – Von Kerstin Hensel habe ich bei meinem ersten Lokalbesuch nach dem Shockdown gehört. – Ein Zeichen?
Hast du von den oben Erwähnten schon Bücher gelesen?
Noch was zu Schrobenhausen: Ich habe ein Gedicht geschrieben, das heißt „Schön schief!“, darin kommt vor: „Briefe schrieb ich / auch viele schiefe / ich schrob sie vielmehr / als dass ich sie schrieb.“ Verschroben sind viele, schrullig auch, ich klopfe mir auf den Bauch. Das schiefe Gedicht ist in meinem vorletzten Buch drin, das letzte kam vor ein paar Tagen angeflogen, setzte sich nieder auf mein’ Fuß, da gab ich ihm einen Kuss … Weil’s auch wirklich zu schön geworden ist, dank der großartigen Raffaela Schöbitz, die wunderbare Illustrationen gemacht hat. Das Buch wurde früher als erwartet fertig, so eine Freude, eine narrische. Es heißt: Gute Reise, Eierspeise!, ein Buch für Kinder, aber nicht nur, würde ich meinen. Ursprünglich hieß es Eierschmeißfeier, aber dagegen gab es vehementen Protest bei der deutschen Vertreterkonferenz, da Eierschmeißen in Deutschland zu Ostern Tradition sei und es sich bei meinem Buch definitiv nicht um ein Oster-Buch handle … Der Verlag rief mich an, es musste eine neuer Titel her, und zwar schnell, am besten einer, in dem Eier vorkommen, damit die Illustratorin keine zusätzliche Arbeit hat, und innerhalb von einer Stunde lieferte ich gezählte 69 Titel, Nr. 67 ist es geworden. Der neue Titel gefällt mir inzwischen besser als der ursprüngliche. Während ich auf Titel-Suche war, rief mich übrigens ein Freund an. Er musste lachen, als ich ihm von meinem Titel-Problem erzählte, und er meinte, es sei schon erstaunlich, womit ich mich beschäftigen würde in meinem Alter. Sein nicht ernst gemeinter Titel-Vorschlag lautete: „Hoden ohne Boden“ …
Ich Ich Ich – Widerl-Ich! Jaja, das Widerl-Ich. Ich will einmal ein Märchen schreiben, dessen Protagonist Widerl heißt. Widerl und die Anderen. Widerl und Du … By the way, kennst du das Buch Ich Ich Ich von Robert Gernhardt? Einem kurzen Text von mir, der schon lange verschollen ist, stellte ich einmal drei Zitate voran: Eines aus dem eben erwähnten Buch Ich Ich Ich von Robert Gernhardt, eines aus dem Text Ich, ich von Daniil Charms und eines aus Ich, der Autobiografie von Franz Beckenbauer. Ich kann mich nur erinnern, dass der Satz von Beckenbauer, dem Fußball-Kaiser, am „poetischsten“ war, ein blumiger, schwülstiger Satz mit einem Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang. Apropos Fußball, kürzlich sah ich zum ersten Mal seit ca. drei Monaten ein Fußballspiel. „War das eine Herrlichkeit!“, um schon wieder Hrabal zu zitieren. Manche Sätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen.
Ich schreibe täglich weiter an dem Brief an dich – das erinnert mich an einen Sommer, in dem ich einer Dänin schrieb, die ich in Grauen (wirklich war!) kennengelernt hatte … Ich war zu einer Lesung in Grauen eingeladen, im Rahmen einer Ausstellung der Hamburger Kunstschule Soundso. Der Leiter der Kunstschule, bei dem auch ein Freund von mir Schüler gewesen war, lebte mit seiner Familie in Grauen, wo er ein größeres Anwesen besaß. Mein erstes Buch war erschienen, bei einem großen Berliner Verlag, die Lesung fand am späten Nachmittag statt, in der ersten Reihe saß besagte Dänin, eine der ausstellenden Künstlerinnen – sie wurde vom bezaubernden Abendsonnenlicht beleuchtet, ich las aus meinem ersten „richtigen“ Buch vor, wie manche sagten (das kleine Buch, das vorher bei einem Wiener Kleinverlag erschienen war, zählte für viele nicht), es war einmal, du liebe Zeit, und wie diese Dänin dann mit mir sprach, das erinnerte mich an Vivi Bach, eine Dänin, die ich als sehr junger Mensch in einer bekannten Familienshow immer gesehen hatte, deren unperfektes Deutsch mit dänischem Akzent, diese „süße Sprechweise“ mich erotisiert hatte … In Grauen war es um mich geschehen. Am nächsten Tag besuchte ich die Dänin gleich in der Kunstschule in Hamburg, auf dem Weg dorthin schiss mir ein Vogel auf den Kopf, wir unterhielten uns stundenlang („Das Leben ward noch nie begonnen, wir wollen’s beginnen“, Li-tai-pe, übersetzt von Klabund) und und und … Ich musste wegen Brotberuf, Frau und Kind zurück nach Wien, sie hatte meine Adresse und sagte, sie würde mir schreiben, so würde ich ihre Adresse bekommen, ich wollte dann auf ihren Brief reagieren, aber der Brief kam nicht, er kam einfach nicht, Woche um Woche verging, ich platzte fast vor Mitteilungsbedürfnis. Also begann ich, ihr zu schreiben, immer auf ihren Brief wartend, es wurde eine Art Tagebuch dieses Sommers, der Brief wuchs immer mehr an, „kurz ist das Leben, lang der Brief“, und als dann endlich ihr schönes Brieflein eintraf, das ich so sehnsüchtig erwartet hatte, war mein Brief inzwischen auf über 80 Seiten angewachsen bzw. angeschwollen (handschriftliche), ich schoss ihn unverzüglich ab, und ich muss sagen, als sie ihn bekam, war sie leicht schockiert, auch abgestoßen. Tja, meine Frau hatte es auch nicht immer leicht mit mir. Übrigens, als ich von Grauen und Hamburg zurück nach Wien kam, war ich irgendwie verändert – diese Erleichterung meiner Frau, wir waren damals noch nicht verheiratet, als ich ihr nach einer Woche gestand, dass ich schrecklich verliebt sei. Sie war wirklich erleichtert. Ach so, ja das sei nicht so schlimm, das vergehe schon wieder, soll nix Schlimmeres passieren … Meine scharfsinnige Analyse, warum „die Sache“ so tief ging, stichwortartig zusammengefasst: Vivi Bach, erstes „richtiges“ Buch, Abendsonne, Kunst, große weite Welt (Hamburg, Grauen), Freiheit, nix Brotberuf …
Fast jedes Mal, wenn ich hier bei uns über die Rotundenbrücke gehe, denke ich an das Boot, das früher unten am Ufer angeleint war, eine sogenannte Rettungszille. Damit wollte ich eine Zeitlang zum Schwarzen Meer fahren, nach Odessa. Einmal spät in der Nacht, nach einem arbeitsreichen Tag beim Heurigen und einem bierreichen Feierabend, war ich kurz davor, die Reise anzutreten. Ich hatte schon ein Bein gehoben, um ins Boot zu steigen, da fiel mir ein, dass ich keinen Wein und viel zu wenig Zigaretten dabei hatte, also verschob ich die Reise auf später … Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, nicht mehr zu rauchen. Rauchst du eigentlich? Hast du je geraucht? Ein Buch, das ich auch vielleicht irgendwann fertig stellen will, schläft den Schlaf des Verschobenen – heia, heia, au weia! Das Material für dieses Buch ist ein Konvolut aus Briefen, die ich während der Zeit verfasste, als eine Katze bei uns eingezogen war (ich wollte keine, aber da mein Sohn meinte: „Wenn ich schon keinen Bruder habe …“) und ich mit dem Rauchen aufgehört hatte, worunter ich litt wie ein Hund. Ich wurde depressiv, konnte nicht mehr schlafen und weil ich auch nicht mehr schreiben konnte, schrieb ich unendlich viele Briefe, die sind ausgedruckt in einem dicken Ordner mit dem Titel: Lieber Nichtraucher und Katzenfreund. Ich muss mir immer wieder sagen, dass ich alles richtig gemacht habe. Jaja, damals machte ich noch einen Unterschied zwischen dies und das, um’s ganz präzise zu sagen.
Mit Johnny habe ich im Zwergerl Geburtstag gefeiert, mit Wolferl traf ich mich Tage nach seinem, also Wolferls Geburtstag (er ist noch nicht so alt wie Johnny und ich) in „unserem“ Kaffee Alt Wien. Die eigentlichen Geburtstagsgeschenke hatte er schon mit der Post bekommen, aber wir schenken uns auch zwischendurch immer wieder was, er bekommt z.B. alle meine Bücher, also bekam er natürlich auch das gerade erschienene Gute Reise, Eierspeise, selbstverständlich mit Widmung, und darin habe ich u.a. einen Satz geschrieben, der auch in einem Lied des von Wolferl so sehr geliebten Neil Young vorkommt (mit kleiner Änderung zum Schluss): „There’s more to the picture than meets the Ei.“ – Von Wolferl bekam ich das Buch IGGY POP open up and bleed von Paul Trynka. Außerdem überreichte er mir Fotos, auf den Miles zu sehen ist! Der Hase Miles und die Katze Carlo. Was für süße Tierchen! Und wie jedes Mal bei unseren Treffen machte Wolferl mit seiner Sofortbildkamera ein Foto von mir und ich machte eines von ihm. Die Fotos legte er auf den Tisch, wo wir aus der schwarzen Fläche durch die Lichteinwirkung mit der Zeit langsam hervortraten (Ausdruck mangelhaft). Er schreibt dann jedes Mal mit schwarzem Stift darunter: Ort, Datum, Uhrzeit. Es gibt inzwischen sehr viele Fotos von uns. Er nimmt mein Foto mit, ich seines. Jemand habe ihn vor kurzem gefragt, ob ihm nicht fad war während der Corona-Zeit (er konnte, weil Vorerkrankung usw., nicht zur Arbeit), da habe er ihm geantwortet: „Heast Oida, ich hab über 4000 Schallplatten, da wird einem nicht fad, ich hab ausgesorgt …“ (So in etwa sagte er.)
Miles ist ein süßes, wuscheliges, schneeweißes Tierchen, und Carlo sieht aus wie unsere verstorbene Katze, und Carlo heißt eine Hauptfigur in einem weiteren meiner halbfertigen, verschobenen Bücher mit dem Arbeitstitel Wir waren eine kleine lustige Gruppe …
Mit Johnny im Zwergerl war es auch großartig! Bei „Zwergerl“ musste ich jetzt an „Kathedrale“ denken … Nur Geduld, es klärt sich gleich auf.
Ich habe eine neue Frisur, der Wildwuchs wurde endlich gestutzt. Nach dem Haarschnitt durch die erfrischende, humorvolle, urliebe Friseurin gehe ich in ein Geschäft und frage den Herrn an der Kassa nach einem Camping-Kocher (wir wollen Mitte Juni eine Woche lange zelten gehen!). Er ruft nach einem Mädchen, sie solle mir das Gewünschte zeigen. Das Mädchen trägt eine Rapid-Maske, so haben wir gleich was zu reden. Ich sage ihr, dass ich am Vortag das erste Mal seit ca. 3 Monaten wieder ein Fußballspiel gesehen habe. Sie gleich: „Die Bayern haben leider gewonnen!“ Ich, ganz Experte: „Ja, schade, jetzt ist die Liga ist nicht mehr spannend.“ Sie: „Wie war das Spiel?“ Ich: „Hm, die Freunde, mit denen ich es angeschaut habe, sah ich zum ersten Mal seit langem, also wir haben viel gequatscht …“ Eine spanische Zeitung schrieb über den Bayern Spieler Kimmich, der das einzige Tor des Spiels geschossen hatte: „Das Duell zwischen Lewandowski und Haaland hat Kimmich gewonnen. Er ist ein Fußballer so groß wie eine Kathedrale.“ – So groß wie eine Kathedrale, ein Fußballer, alle Achtung vor diesem Vergleich! Ja, ich war endlich wieder mal Fußball schauen, mit Antonio und seinem Schwager Dominik. Von Antonio wird im Sommer ein Theaterstück in Klagenfurt aufgeführt und ein neues Buch erscheint auch von ihm: Nachrichten aus einem toten Hochhaus – in der Titelerzählung geht es u.a. um das „tote Hochhaus“ in Pécs, das mich dort auch sehr beschäftigt hat. Inzwischen ist das Hochhaus, das lange leer stand und verrottete, abgerissen worden. Ich erzähle ihm von dem Titel-Theater wegen meinem „Eierspeise-Buch“, dass bei den 69 Titel-Vorschlägen auch dabei gewesen sei: Mach es wie die Eieruhr, den Titel hätte ich dann zur Sicherheit gegoogelt und sei draufgekommen, dass er schon vergeben war. Das letzte Buch von Antonio heißt so, hoho. – Immer lustig, immer froh, hoch lebe der Antonio!
Liebe Marjana, ich hoffe, ich langweile und ermüde dich nicht. Ein Freund hat mir vorgeworfen, ich würde dich mit meinen Briefen erschlagen … Das will ich auf gar keinen Fall, dich erschlagen, ich will niemanden mit Briefen erschlagen, das wäre mir gar nicht recht, ich weiß, andere haben anderes zu tun als elendslange Briefe zu schreiben … Ich erwarte nie und nimmer Antworten in ähnlichem Umfang, meine Mutter, der ich seit Anfang 2018 Briefe schreibe wie blöd, hat mir z.B. noch nie geantwortet. Aber sie ruft nach jedem Brief an, den sie von mir bekommt … Anfang Jänner 2018 hatte sie ihren 80. Geburtstag (sie wollte von ihren vier Kindern keine Geschenke, höchstens ein Buch, und sie verbat sich irgendwelche Überraschungsfeierlichkeiten). Während der Zugfahrt zu ihr kam ich auf die Idee, ihr 80 Briefe zu schenken, die ich ihr im Laufe des Jahres schreiben würde. Was in der Folge passierte, überraschte uns beide, denn die Briefe waren dann nicht selten 20 Seiten lang, insgesamt waren es am Ende des Jahres über 700 Seiten (solche Seiten wie diese hier), und damit wir beide nicht Entzugserscheinungen bekommen, schenkte ich ihr zum 81. Geburtstag wieder Briefe, nur diesmal mit der Einschränkung, dass keiner länger als eine Seite sein darf (daran hielt ich mich dann auch brav, meistens zumindest), und 2020 bekam sie wieder Briefe, diesmal sollten es mehr fiktive, autofiktionale sein (so war zumindest der Plan, der bald über Bord geworfen wurde), und nur einer pro Woche (Seitenzahl wieder unbegrenzt). – Das war eine der besten Ideen, die ich je hatte, ihr Briefe zu schreiben, auch wenn dabei natürlich einiges an Schreibenergie und Schreibzeit draufgeht. Aber das ist es mir wert. Mein Schreiben führt zu Reaktionen, und noch dazu meistens zu sehr schönen! Mutter ruft mich nach jedem Brief an, wie gesagt, sie freut sich darüber, muss oft lachen (ich muss diszipliniert sein und mir ständig vor Augen halten, an wen ich schreibe, also depressives Gejammer oder schlimmeres verkneife ich mir) – ja, sie muss lachen, liest die Briefe mehrmals, einmal hat sie gemeint, sie habe mich jetzt erst richtig kennengelernt, eigentlich sei ich vorher für sie immer noch der 18-jährige gewesen, der damals von zuhause auszog … Warum ich auf die Idee kam, ihr zu schreiben, erzähle ich dir vielleicht ein anderes Mal, wenn es sich ergibt, jetzt genug davon.
Dein heiß ersehnter Brief (lass mich das so sagen) ist gerade gekommen, ich bin entzückt! – Ich habe gelogen, dein Brief ist noch nicht da. Ich werde obigen Satz erst schreiben, wenn er da ist. – Wie mich das alles an diesen Sommer mit der Dänin erinnert: „S-prich doch mal österreichisch, du!“, hatte sie zu mir gesagt …
Im STANDARD dieses Wochenende bin ich groß drin, im Immobilien-Teil. In einem „Wohngespräch“ rede ich über unsere kleine Wohnung, träume von einem eigenen Hochhaus: 10 bis 12 Stockwerke würden mir genügen, sage ich, jedes für was anderes: Musik, Lyrik, Roman, Kinderliteratur, Brief usw., natürlich vergesse ich nicht auf Kochen, Essen, Schlafen usw. Wenn es dann soweit ist, werde ich mir das alles genauer überlegen. Antonio schreibt über das tote Hochhaus von Pécs, ich träume von einem höchst lebendigen eigenen Hochhaus.
Die sieben Fliegen, Kinder von Fritz! Seit Tagen schon sind sechs von ihnen verschwunden, eine einzige ist bei uns geblieben. Wir vermuten, die anderen sind beim Lüften durchs Fenster entwischt. Untreue Seelen! Ich beneide dich um Arthur.
2002 hatte ich auch eine exzessive Briefschreib-Phase. Ich hatte beim Brotberuf-Heurigen aufgehört, wollte dort nicht mehr arbeiten, wollte mich nur noch aufs Schreiben konzentrieren, mein Freund P. trennte sich von seiner Freundin E., d.h. die beiden trennten sich voneinander, da war der Weg wieder frei für mich (ohne konkret zu werden, zehn Jahre zuvor glaubte ich, meinen Freund für immer verloren zu haben, was eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens war, nämlich etwas partout nicht wieder gutmachen zu können), er zog in eine andere Stadt, wir verloren uns aus den Augen, kein Kontakt mehr, dann nach fast zehn Jahren schüchterne Annäherung, und auf einmal war alles wieder gut, so wie vorher, und Briefe ohne Ende. Ich war damals endlich freier Schriftsteller, genoss meine Freiheit, und was tat ich Trottel? Ich schrieb Briefe, vor allem an P., und zwar hunderte von Seiten. Es galt u.a. 10 Jahre nachzuholen, in denen wir uns nicht gesehen hatten … Tja. Schön war’s. Alles unveröffentlicht. Das alte Lied mit der langweiligen Melodie.
Ernst Molden singt in einem Lied: „Schwarz, schwarz, schwarz brüllt der Wienerwald …“. Ich schreibe eigene Lieder, singe Lieder von anderen, vertone Gedichte, übersetze, mache nicht nur „Kofferversionen“, sondern auch „Vollkofferversionen“, streue bei Auftritten zwischendurch gern einen Satz von Valère Novarina aus Die eingebildete Operette ein: „Hier liegt ein Lied begraben, liegt ein Lied begraben … das nix taugt … was nix taugt … das besser klingt, wemman’s nicht singt!“ (Übersetzung von Leopold von Verschuer, den ich vor Jahren nach einem Auftritt in Gmunden kennenlernte – sehr sympathischer Mann, Mann! Ein anderer Mann, mein lieber Bruder, der ernsthafte Komponist, hat es nicht so gern, wenn ich Musik mache. Wir werden so schon oft genug miteinander verwechselt, und wenn ich auch noch vermehrt als Musiker in Erscheinung trete, ist das Durcheinander perfekt, und er will, vor allem was Musik anbelangt, auf keinen Fall mit mir verwechselt werden. Bei einem meiner ersten Auftritte mit (absichtlich) verstimmter Gitarre bot er in der ersten Reihe einen Anblick, den ich nie vergessen werde: Während ich beschwingt und hemmungslos vor mich hin sang und klampfte, hatte er sein Gesicht mehr oder weniger zwischen seinen Knien und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
Ehe ich’s vergesse, wir hatten gerade unseren 15. Hochzeitstag. Wir beschlossen, einen „Corona-Tag“ zu machen, da durfte nicht fehlen: ein eineinhalb bis zweistündiger Spaziergang durch den Märchenwald zur Donau und zwei Folgen unserer aktuellen Serie. Wir haben übrigens in Hamburg geheiratet. Wo du?
Hast du Reisepläne? Mein neues Reisziel heißt: Christian County in Missouri, Verwaltungssitz ist Ozark (die Serie, die so heißt, sehen wir derzeit. Es kommen darin dermaßen brutale Szenen vor, dass ich schon mehrmals brutale Träume hatte, meine Frau meinte, wir sollten danach weniger brutale Serien schauen, weil sich die brutalen so brutal auf meine Nächte auswirken). Städte in der Nähe von Ozark sind Chicago, Kansas City, Springfield, Memphis Tennessie … Aber es wird wohl eher Kiel werden, d.h. Kiel, Hamburg, Bremen, Augsburg, Berlin, Mainz … Ich habe ja zum Geburtstag ein Interrail-Ticket für Deutschland bekommen, das ich bald einlösen sollte. Das Buch Netzkarte von Sten Nadolny habe ich auch gerade wieder einmal gelesen, darin kommt ein Ort namens Sterbfritz vor – wirklich wahr, dass es möglich ist! Sterbfritz ist ein Ortsteil der Gemeinde Sinntal im hessischen Main-Kinzig-Kreis – dort muss ich natürlich auch hin!
Als Wolferl im Alt Wien mal am Klo war, sah ich mich um (das Lokal war übrigens so gut wie leer, das haben wir vorher noch nie erlebt!), da fielen mir unter den vielen Plakaten, die an den Wänden hängen, drei auf, über die allein ich stundenlang erzählen könnte:
Hermann Nitsch (ich war einmal auf einem der Dreitagefeste seines „Orgien Mysterien Theaters“, ich sage nur: quasi drei Tage durchgemacht …)
Helmut Qualtinger (ich durfte für Deuticke das Buch Best of Qualtinger präsentieren, ich konnte damals urviel von ihm auswendig – ging meiner lieben Frau total auf die Nerven damit …)
Die Strottern (Neues Wienerlied-Duo, wir hatten mehrere Auftritte zusammen, ich las dabei immer aus meinem Buch Frau Grete und der Hang zum Schönen …)
Schluss! Aus! Basta!
Wie geht es weiter?
Treffen wir uns einmal im wirklichen Leben?
Die Welt geht unter, der Brief nicht.
Von Courtney Barnett singe ich auch gern Lieder, aber jetzt höre ich mir lieber eines von ihr an – das mit dem Text: „I feel stupid / I feel useless / I feel insane …“
Während ich dir schreibe muss ich zwischendurch immer wieder an ein Zitat von Nora Ephron denken: „Den Tiefpunkt des Alters, das Reich der Anekdote habe ich noch gar nicht erreicht, bin aber auf dem besten Weg dorthin.“
Ich habe in meinem Leben Briefe geschrieben, immer wieder, nach denen ich dachte, jetzt kann ich sterben, in dem Sinn: es ist vollbracht, mehr geht nicht.
Das noch: Unser Sohn war zu Besuch, es gab Suppe und Flammkuchen, er erzählte u.a. davon, dass er geritten sei. Eine seiner Freundinnen hat ein Pferd, das wohnt in einem Stall in Süßenbrunn … Es war das erste Mal, dass er geritten ist, er habe auch „gekuschelt“ mit dem Pferd, also Kopf an Kopf gedrückt. Die Freundin hat auch einen sympathischen Hund, mit dem ging unser Sohn während der Corona-Zeit immer wieder spazieren. Ich habe letztens einmal überlegt, was für Tiere mir in Wien quasi in freier Wildbahn schon begegnet sind: Fliege, Biene, Wespe, Gelse, Spatz, Krähe, Weberknecht, Hund, Katze, Spinne, Maus, Marder, Biber, Fuchs, Ratte, Reh, Rehbock, Feuerkäfer, Dachs, Eichhörnchen, Wildschwein, Falke, Pferd, Ente, Fisch, Schildkröte, Schwan, langweiliger Aufzähler …
Beim Bügeln hörte ich die Kinks, und als in einem Lied die Zeile kam: „There’s to much on my mind and there is nothing I can do about it“, sagte ich laut: „Me too!“ Ich bügle gern, Iggy Pop tut lieber Staub saugen, wie er in einem Interview meinte, der wilde Hund … Wolferl erzählte, den härtesten Gig, den er je erlebt habe (und er hat ca. 100.000 Gigs erlebt, und zwar weltweit: England, USA, Deutschland, Schweiz, Italien, Frankreich usw.), sei einer von den Kinks gewesen. Deshalb hörte ich die Kinks zum Bügeln … Ich trage mich mit dem Gedanken, W. irgendwann zu seinem Leben zu befragen, mit eingeschaltetem Aufnahmegerät. Er hat viel erlebt, er kann pointiert, witzig, originell und scharf formulieren … Die Köchin unseres Heurigen, die Frau Grete, habe ich damals auch interviewt und daraus das Buch Frau Grete und der Hang zum Schönen gemacht … Wolferl würde ebenfalls sehr viel hergeben. Vielleicht, vielleicht, dann würde ich es besser machen als bei der Frau Grete, weil da habe ich’s ein bisschen vermasselt – man hätte viel mehr daraus machen können. Leider, leider, da habe ich eine Chance vertan, obwohl manche sagen, das sei mein bestes Buch (Ahhhh!!!!), aber das würde jetzt zu weit führen, und der Brief soll doch nicht zu lang werden. Vielleicht sollte ich bald das Märchen vom Widerl schreiben …
Marjana, ich hoffe, wir bleiben in Kontakt.
In Zukunft werde ich wieder mehr meiner Mutter (82) und meiner Nichte (13) schreiben, und all den anderen …
Vielleicht bekommen wir auch heuer wieder das Stelzenhäuschen in Kritzendorf, das ich gern Kritzeldorf nenne (weil ich dort viel kritzle) oder Kratzendorf (wegen der Gelsen) – aber wie gesagt, die Gelsen waren nie besonders störend – kein Vergleich zu den Heuschrecken in Afrika, du meine Fresse! Hast du von diesen Heuschreckenschwärmen gehört, die alles wegfressen, Schwärme, die z.T. eine Fläche haben so groß wie Vorarlberg … Unglaublich! Also dagegen sind die Gelsenschwärme in Kritzendorf ein Witz (Witzendorf zu schreiben, verkneife ich mir).
Ich sollte an meinem neuen Buch arbeiten!
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Dein heiß ersehnter Brief (lass mich das so sagen) ist gerade gekommen, ich bin entzückt! – Nein, immer noch nicht. Aber ich warte gern, das erinnert mich alles an diesen Sommer vor vielen Jahren …
An einem Sonntag vor kurzem im Garten meiner Schwestern in Fischamend:
Wir schossen mit Pfeil und Bogen. Mir gelang ein Meisterschuss, den kein Meisterschütze je wird wiederholen können: Ich schoss neben Zielscheibe, Styroporplatte und Holz voll in die Mauer und von dort prallte der Pfeil ab und flog in einen Baum, wo er mit der Spitze nach oben an einem Ast hängen blieb. Ich habe den historischen Treffer fotografisch dokumentiert. Was ist dagegen schon ein Treffer ins Schwarze?
Aus dem Buch Demnächst mehr – Das Buch der Briefe, das ich inzwischen bekommen habe, hier was von Gottfried Benn, das er ans Ende eines Briefes gesetzt hat: „Langer Brief! Noch viel zu viel Worte! Was für Wesen noch um dies alles! Wie vergangen das Ganze! Musik bleibt wohl länger wie Worte, nur Musik! / Herzlich: / Ihr / Benn“. U.a. deshalb werde ich mich bald auf meine musikalische Karriere konzentrieren und endlich voll durchstarten. Ein junger Shooting Star werde ich wohl nicht mehr, aber was ich unbedingt noch schaffen will: Gigs im ganzen Land und darüber hinaus, anfangs allein, aber bald schon mit Band und und und. – Ein alter Jugendtraum, den ich mir jetzt verwirklichen werde, da fährt der Tourbus drüber, yeah! Demnächst mehr beginnt übrigens so: „Geehrte Leserinnen und Leser, wann haben wir unseren letzten drei-, gar fünfseitigen Brief geschrieben?“ Ich musste schmunzeln. „Von Hand, versteht sich …“ Und da musste ich an einen Brief denken, den ich vor vielen Jahren meinem Bruder geschrieben habe, der damals bei der Militärmusik war. Er öffnete das Kuvert, holte den mit Schreibmaschine getippten Brief hervor, worauf gleich einer seiner Zimmergenossen, der gesehen hatte, dass der Brief nicht handschriftlich war, ausrief: „So ein unpersönlicher Brief!“, worauf ihm mein Bruder gleich den Anfang meines Briefes vorlas: „Lieber Gerald, welcher Idiot sagt da, ein getippter Brief könne nicht persönlich sein …“ Eines meiner Lieblingslieder der letzten Jahre war Military of the Heart von naked lunch – ich weiß nicht, wie oft ich das Lied gehört und noch viel öfter selber gesungen habe. Ja, ich will in Zukunft vermehrt mit Gitarre auftreten und singen aus voller Brust. Mein Bruder wird keine Freude damit haben, ich könnte mich Fucek nennen, damit es zu keinen Verwechslungen kommt.
Rüdiger Görner: „Lange oder kurze Briefe – das ist eine Frage des Mitteilungsbedürfnisses oder des Taktes (wie viel soll man Anderen von sich selbst zumuten?)“ – Da war doch was mit Taktgefühl, was war das nur?
Rahel Varnhagen 1828 am Schluss eines Briefes an die Fürstin von Pückler-Muskau: „Fast möchte ich mich sehr dieses langen Schreibens wegen entschuldigen.“ – Schön gesagt.
Ich will ein Märchen schreiben über Arthur, Fritz und Miles, Arbeitstitel: Die glorreichen Drei.
Ich will auch eines schreiben über jemanden, der sehr gern Briefe schreibt und dessen Traum in Erfüllung geht: dass er für das Schreiben von Briefen bezahlt wird. Manche zahlen pro Seite, andere zahlen einen Fixpreis für fünf Briefe im Monat, wieder andere zahlen für einen Brief erst ab Seite 20 etwas …
Er schreibt auch Briefe zu besonderen Anlässen.
Jedenfalls schreibt er täglich Briefe von früh bis spät, denn er ist nicht ganz bei Trost.
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11. Juni
Dein Brief ist gekommen, ich bin tief entzückt! (Das „denn er ist nicht ganz bei Trost“ oben habe ich erst nach der Lektüre deines Briefes hinzugefügt.)
Und ich bewundere dich! Und ich beneide dich! Und ich will dir unverzüglich antworten:
Dass die Gösser Bierinsel einmal dein Lieblingslokal war, ist ja unglaublich! Ich war immer wieder dort, habe aber leider nie dich getroffen, sondern nur z.B. einmal den schon erwähnten Herrn Nüchtern, der seine Nase in eine großformatige deutsche Zeitung steckte und mir durch seinen Anblick den ganzen Tag verdorben hat … Hinweg mit dir, böser Nüchtern! Da fällt mir ein, eines meiner „Fliegen-Gedichte“ ist in der Bierinsel entstanden, es hat den Titel Gustiöse Männer im Hochsommer und ist recht unappetitlich … Schön, was du über die Winterabende dort schreibst! Ich nehme mir vor, diesen Ort so bald wie möglich wieder einmal aufzusuchen.
Arthur geht es gut, das freut mich! Und was vor ihm liegt, klingt auch gut: Gisela, Loulou oder die Philosophin der letzten Geheimnisse – ich würde Arthur entscheiden lassen. Aber vielleicht wird es ja eine Melange à quatre, ich meine natürlich Ménage!
Ich beneide dich um Arthur – ich hätte auch gern einen Arthur! Zu unserer neuen Fliege habe ich keinen Draht gefunden, sie auch nicht zu mir, wir leben gleichgültig nebeneinander her …
Ich bewundere dich, weil du ein Pferd eingefangen und dadurch Unheil verhindert hast! So ein berauschendes Erfolgserlebnis hätte ich auch gern, aber ich war eigentlich immer ein Angsthase, eine Memme …
Schreibe wild und gefährlich, Artur.
Vom braven Anton musst du mir auch einmal erzählen.
Ich habe gerade das Buch Ich erwarte die Ankunft des Teufels von Mary MacLane gelesen. Gegen Ende des Buches schreibt sie über das Lied „Mariana“ (so ein Zufall!) von Alfred Tennyson: „Den ganzen Tag kreist und schwimmt dieses das Herz krank machende Lied von Mariana in meinem Kopf herum. Ich wache früh am Morgen damit auf, und jetzt zur späten Stunde ist es immer noch in mir.“ – Sie zitiert aus dem Lied, ich will aber was anderes zitieren aus dem Buch, in dem ich viel angestrichen habe: „Ich bin meiner selbst müde. Immer ich, ich, ich. Aber es geht nicht anders.“ Und vielleicht das auch noch: „Ich schreibe der Anemonendame eine Menge Briefe. Manche schicke ich ihr und manche behalte ich mir, um sie selbst zu lesen. Ich lese gerne Briefe, die ich geschrieben habe – besonders die, die ich ihr geschrieben habe.“
Weil ich meinen ersten Brief an dich mit dem Anfang deines Buches Annuschka Blume begonnen habe, dachte ich mir, schau doch, wie das Buch endet, und da war ich schon wieder entzückt und dachte, das passt doch gut an das Ende meines fünften Briefes an dich: „Ich bleibe liegen, die Backe an den Brief gepresst, an wen schreiben? Und was? Und wie? Mein Gott. Das Zimmer schwimmt, und Fische wirbeln wie im Traum umher, im Traum, im Traum, im Traum!“
Falls wir mit dem Zug in die Berge fahren …
Es war mir eine große Freude!
Mit einer Blume in der Hand für dich,
Christian